Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Rechtsstreit durch Rücknahmefiktion beendet ist. Die Klägerin begehrt die Fortführung des Klageverfahrens zur Durchsetzung des Anspruchs auf Kosten für Unterkunft und Heizung in tatsächlicher Höhe für den Zeitraum von Mai bis Dezember 2013.

Im zugrunde liegenden Verfahren (S 12 AS 3521/13) griff die Klägerin den Bescheid vom 11.06.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.09.2013 an und begehrte höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung nach dem SGB II für den Zeitraum von Mai 2013 bis Dezember 2013.

Die 1967 geborene Klägerin und ihr 1998 geborener Sohn D stehen beim Beklagten im Leistungsbezug. Zum 01.05.2013 zogen sie wegen einer Eigenbedarfskündigung des Vermieters aus der bisherigen Wohnung (400,00 EUR Kaltmiete, 70,00 EUR Heizkosten, 50,00 EUR Nebenkosten) in die neue Unterkunft (547,20 EUR Kaltmiete, 90,00 EUR Nebenkosten, 80,00 EUR Heizkosten). Vor Unterzeichnung des Mietvertrages lehnte der Beklagte die Zusicherung nach § 22 Abs. 2 SGB II ab. Die Klägerin unterzeichnete den Mietvertrag. Als Gründe hierfür gab sie an, es sei ihr aufgrund des über ihr Vermögen eröffneten Insolvenzverfahrens und als Alleinerziehende nicht möglich gewesen, zu den von dem Beklagten anerkannten Mietobergrenzen eine Wohnung zu finden. Zudem habe sie die zum März 2013 aufgenommene Berufstätigkeit (820,00 EUR brutto) nicht gefährden wollen. Der Beklagte bewilligte der Klägerin und ihrem Sohn Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts von 650,19 EUR monatlich, wobei auf den Bedarf für Unterkunft und Heizung monatlich 531,10 EUR (361,10 EUR Kaltmiete, 90,00 EUR Nebenkosten, 80,00 EUR Heizkosten) entfielen (Bescheid vom 11.06.2013, Widerspruchsbescheid vom 10.09.2013). Dabei errechnete der Beklagte die Unterkunftskosten unter Berücksichtigung der Richtlinien des kommunalen Kostenträgers (361,10 EUR).

Am 10.10.2013 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht Düsseldorf Klage erhoben (S 12 AS 3521/13) und diese auf 3 ½ Seiten begründet. Das Konzept des Beklagten zur Ermittlung der angemessenen Unterkunftskosten genüge nicht den Anforderungen des BSG. Zudem sei der Umzug wegen der Kündigung des Vermieters notwendig gewesen und aufgrund ihrer schwierigen persönlichen Situation habe keine andere Wohnung zu dem vom Beklagten angemessenen Betrag zur Verfügung gestanden und den Verlust der Arbeitsstelle habe sie auch nicht riskieren wollen. Der Beklagte habe von Mai bis Dezember 2013 die Kaltmiete in tatsächlicher Höhe zu zahlen, hilfsweise für November und Dezember 2013 eine Kaltmiete von 400,00 EUR bzw den Betrag nach § 12 WoGG plus 10 % zu berücksichtigen. Auf jeden Fall bestehe ein Anspruch auf Zahlung der Kaltmiete in tatsächlicher Höhe für sechs Monate nach § 22 Abs. 1 Satz 1, 3 SGB II.

Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 22.04.2014 darauf hingewiesen, dass es bisher keine sozialgerichtliche Entscheidung zu den Angemessenheitsgrenzen des Beklagten gebe. Daher sei davon auszugehen, dass ein schlüssiges Konzept vorliege. Des Weiteren trage die Klägerin die Darlegungslast dafür, dass angemessener Wohnraum zu der Referenzmiete nicht zur Verfügung gestanden habe.

Hierzu hat die Klägerin in der Erwiderung vom 25.07.2014 (2 ½ Seiten) darauf hingewiesen, dass die Rechtsansicht des Beklagten, es sei von der Schlüssigkeit des Konzeptes auszugehen, solange keine anderslautende Entscheidung des Sozialgerichts existiere, nicht trage. Vielmehr sei das Sozialgericht von Amts wegen verpflichtet, im Rahmen des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II zu prüfen, ob der Bestimmung der Angemessenheitsgrenze des Jobcenters ein schlüssiges Konzept zugrunde liege und ob angemessener Wohnraum in ausreichender Anzahl zur Verfügung stehe. Der Wohnungsmarkt und die Mieten des Beklagten seien im Konzept des Beklagten unzutreffend abgebildet. Zu beachten sei, dass die von Analyse und Konzepte erhobenen Daten von Januar 2010 bis Mai 2010 stammen. Für den hier streitigen Zeitraum im Jahr 2013 sei bereits fraglich, ob nicht eine Nacherhebung der Daten notwendig gewesen wäre, zumal die Kaltmieten gerade in diesem Zeitraum erheblich gestiegen seien. Zudem stammten die von Analyse und Konzepte erhobenen Daten hauptsächlich von der O Bauverein AG; private Anbieter seien nicht einbezogen worden. Auch sei fraglich, ob es zulässig ist, Wohnungen von weniger als 35 m² auszugrenzen, da diese bekanntermaßen einen erheblich höheren m²-Preis hätten. Zudem sei zu berücksichtigen, welche prekäre persönliche Situation bei der Wohnungssuche bestanden habe. Zu der schwierigen Lage am Wohnungsmarkt, die im Rahmen von mehreren Beratungen bei der Diakonie O zur Sprache gekommen sei, und zu den dort vorgelegten Zeitungsausschnitten könne ihre Gesprächspartnerin T (Diakonie O) als Zeugin gehört werden. Eine intensive Wohnungssuche habe stattgefunden. Beispielhaft habe sie sich ua im März 2013 bei der O Bau AG wohnungssuchend gemeldet und viele Vermieter telefonische kontaktiert, jedoch stets nur Absagen erhalten. Zudem sei es unter Beachtung von § 22 Abs. 1 Satz 1 und 3 SGB II rechtswidrig, ab Mai die bisher gewährte Kaltmiete nach dem Umzug auf den Betrag der Referenzmiete zu reduzieren.

Mit Beschluss vom 31.07.2014 hat das Sozialgericht der Klägerin für das Klageverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt. Mit Verfügung vom gleichen Tag hat das Sozialgericht den Beklagten zum Schriftsatz der Klägerin vom 25.07.2014 zur Stellungnahme aufgefordert und um "Übersendung des schlüssigen Konzepts" gebeten.

Mit Schriftsatz vom 16.09.2014 hat der Beklagte unter Hinweis darauf, dass das Konzept dem Sozialgericht bereits übersandt worden sei, dieses abermals vorgelegt. Ergänzend hat der Beklagte ausgeführt (gut eine Seite), dass es für ein schlüssiges Konzept keine "Laufzeit" gebe. Sollte das Sozialgericht zu der Ansicht gelangen, das Konzept sei nicht schlüssig, wäre ggf eine "Heilung" zu prüfen. Zudem seien auch private Vermieter angeschrieben worden und es sei geprüft worden, ob Wohnraum zur Verfügung stehe.

Mit Schreiben vom 18.09.2014 hat das Sozialgericht der Klägerin den Schriftsatz des Beklagten vom 16.09.2014 zur Stellungnahme übersandt verbunden mit der der Anfrage, ob die Konzepte des Beklagten benötigt würden. An die Erledigung der Verfügung hat das Sozialgericht mit Verfügungen vom 13.11.2014 und 12.12.2014 erinnert.

Mit Verfügung vom 13.01.2015 hat das Sozialgericht die Klägerin aufgefordert, das Verfahren innerhalb von drei Monaten "durch die vollständige Beantwortung der gerichtlichen Verfügung vom 18.09.2014 zu betreiben". Das Sozialgericht hat darauf hingewiesen, dass die Klage nach § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen gelte, falls die Klägerin dieser Aufforderung nicht binnen drei Monaten nachkomme. Da das Sozialgericht bereits am 13.11.2014 und 12.12.2014 an die Erledigung der Verfügung vom 18.09.2014 erinnert habe, sei davon auszugehen, dass die Klägerin kein Interesse an der Fortführung des Verfahrens habe. Die Verfügung ist mit vollem Namen der damaligen Kammervorsitzenden unterschrieben und mit Zustellungsurkunde vom 16.01.2015 zugestellt worden. Mit Schreiben vom 18.04.2015 hat das Sozialgericht die Beteiligten darüber informiert, dass das Verfahren nach § 102 Abs. 2 SGG ausgetragen worden ist.

Die Bevollmächtigte der Klägerin teilte mit Schriftsatz vom 13.05.2015, eingegangen per Fax am selben Tage, mit, dass sie der gerichtlichen Aufforderung vom 13.01.2015 mit Schriftsatz vom 09.04.2015 nachgekommen sei. Die Voraussetzungen des § 102 Abs. 2 SGG lägen nicht vor. Zudem seien die rechtlich relevanten Erwägungen bereits vor Erlass der Verfügung vom 13.01.2015 detailliert und umfassend vorgetragen worden. Als Anlage hat die Bevollmächtigte eine Durchschrift ihres Schriftsatzes vom 09.04.2015, in dem ergänzend zu dem Schriftsatz vom 25.07.2014 zu den Argumenten des Beklagten im Schriftsatz vom 16.09.2014 Stellung genommen wurde, beigefügt.

Das Sozialgericht hat mit Schreiben vom 19.05.2015. darauf hingewiesen, dass der Schriftsatz der Bevollmächtigten erstmals am 13.05.2015 und damit nach Ablauf der Frist des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG eingegangen sei. Das Verfahren sei durch fiktive Klagerücknahme erledigt. Ein Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz liege nicht vor.

Mit Schreiben vom 26.05.2015 hat die Bevollmächtigte der Klägerin anwaltlich versichert, den Schriftsatz vom 09.04.2015 persönlich am 09.05.2015 oder 10.05.2015 zur Post gegeben zu haben. Es würden stets mehrere Schriftsätze zu verschiedenen Verfahren in einem DIN A 4 Briefumschlag an das Sozialgericht übersandt. Daher sei nicht auszuschließen, dass der Schriftsatz einer anderen Kammer zugeordnet worden sei. Die Stellungnahme sei innerhalb der Frist erfolgt. Aus den Umständen vor Erlass der Betreibensaufforderung ergebe sich zudem kein Anhaltspunkt, dass ein Interesse an der Fortführung des Rechtsstreits nicht mehr vorliege.

Die Klägerin hat sinngemäß beantragt,

1. festzustellen, dass das Verfahren nicht durch fiktive Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 SGG erledigt ist,
2. den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 11.06.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.09.2013 zu verpflichten, die Kosten für Unterkunft und Heizung in tatsächlich entstandener Höhe für den Zeitraum von Mai bis Dezember 2013 zu zahlen.

Der Beklagte hat sinngemäß beantragt,

1. festzustellen, dass das Verfahren durch fiktive Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 SGG erledigt ist,
2. hilfsweise die Klage abzuweisen.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 02.12.2015 festgestellt, die Klage gelte als zurückgenommen. Die Voraussetzungen für eine fiktive Klagerücknahme lägen vor. Zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung hätten sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses bestanden. Die Nichteinreichung der vom Sozialgericht mehrfach angeforderten Stellungnahme zu dem Schriftsatz des Beklagten vom 16.09.2014 - der sich mit wesentlichen Aspekten des Konzeptes des Beklagten zur Angemessenheit der Unterkunftskosten auseinandersetze - zeige das fehlende Interesse an dem Rechtsstreit. Zudem sei festzustellen, dass der Schriftsatz der Klägerin vom 09.04.2015 ausweislich des Stempels der Poststelle erst am 13.05.2015 und somit deutlich nach Ablauf der 3-monatigen Frist des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG eigegangen sei. Bereits diese deutliche Überschreitung der Frist lasse auf das Desinteresse der Klägerin an der Fortführung des Verfahrens schließen. Der dahingehende Vortrag der Bevollmächtigten, sie habe den Schriftsatz vom 09.04.2015 am selben Tage oder am 10.04.2015 zur Post gegeben, sei vor dem Hintergrund einer Postlaufzeit von über einem Monat nicht glaubhaft. Es wäre der Klägerin zuzumuten gewesen, mitzuteilen, dass kein weiterer Vortrag beabsichtigt sei oder keine Zusendung des KdU-Konzeptes gewünscht werde.

Gegen den am 10.12.1015 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 11.01.2016 (Montag) Berufung eingelegt. Das Sozialgericht habe zu Unrecht die Voraussetzungen des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG bejaht. Zudem habe kein Anlass für eine Betreibensaufforderung im Januar 2015 bestanden. Denn zu diesem Zeitpunkt sei sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht ausreichend vorgetragen worden. Die Beteiligten hätten mehrfach ihre Standpunkte dargetan. Es sei nunmehr notwendig gewesen, Ermittlungen durchzuführen bzw eine Entscheidung zu dem Konzept des Beklagten zu treffen. Zudem verkenne das Sozialgericht, dass innerhalb der gesetzten Frist sehr wohl eine Stellungnahme abgegeben worden sei.

Die Klägerin beantragt nach ihrem Vorbringen sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 02.12.2015 aufzuheben und das Klageverfahren bei dem Sozialgericht Düsseldorf zu dem Aktenzeichen S 12 AS 3521/13 fortzusetzen.

Der Beklagte beantragt nach seinem Vorbringen sinngemäß,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat mit Beschluss vom 14.07.2016 die Berufung auf die Berichterstatterin übertragen. Mit Beschluss vom 18.07.2016 hat der Senat das Verfahren im Einverständnis mit den Beteiligten bis zur Entscheidung des BSG in dem Verfahren B 4 AS 2/16 R und der Vorlage der Entscheidung im Volltext zum Ruhen gebracht. Das Verfahren ist im September 2017 wieder aufgenommen worden. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitverhältnisses wird auf die Gerichtsakte, die Verwaltungsakte sowie die beigezogen Akte S 12 AS 3893/13 verwiesen.

 

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte nach § 153 Abs. 5 SGG durch die Berichterstatterin und die ehrenamtlichen Richter entscheiden. Die Voraussetzungen liegen vor, denn die Klägerin hat gemäß § 105 Abs. 2 Satz 1 SGG gegen einen Gerichtsbescheid Berufung eingelegt, welche vom Senat durch Beschluss vom 14.07.2016 der Berichterstatterin übertragen worden ist. Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 SGG, § 153 Abs. 5 SGG; Keller in Meyer-Ladewig, SGG, 12. Auflage § 153 Rn. 24).

Die Berufung der Klägerin ist gemäß § 143 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig. Das Rechtsmittel unterliegt nicht der Berufungsbeschränkung nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG. Zwar betraf die ursprünglich erhobene Klage einen auf eine Geldleistung gerichteten Verwaltungsakt mit einem Gegenstandswert von unter 750,- EUR (717,20 EUR - 531,10 EUR = 186,10 EUR x 8 = 1.488,80 EUR: 2 = 744,40 EUR) ; denn nur die Klägerin verfolgte ihren durch die Bedarfsgemeinschaft mit dem Sohn bestimmten Einzelanspruch auf höhere Leistungen für den Zeitraum von Mai 2013 bis Dezember 2013. Jedoch hat sich nach der vom Sozialgericht verfügten Erledigung dieser Klage der Streitgegenstand geändert (LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 10.03.2016 - L 6 AS 1546/14).

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts vom 02.12.2015, mit dem dieses die Erledigung des Klageverfahrens nach § 102 Abs. 2 SGG festgestellt hat.

Die zulässige Berufung ist begründet. Die Voraussetzungen des § 102 Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Das Sozialgericht hat zu Unrecht festgestellt, dass der Rechtsstreit als durch Klagerücknahme erledigt gilt.

Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt, § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG. Diese Vorschrift ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Die Rücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG führt zur Beendigung des Rechtsschutzverfahrens mit möglicherweise irreversiblen Folgen, insbesondere wenn behördliche Ausgangsentscheidungen dadurch in Bestandskraft erwachsen, ohne dass der Kläger dies durch ausdrückliche Erklärung in bewusster Entscheidung herbeigeführt hätte. Die Handhabung eines solchen prozessualen Instruments mit derart weitreichenden Konsequenzen muss daher im Lichte der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG unter strikter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben erfolgen, verstanden als Ausnahme von dem Grundsatz, dass ein Beteiligter ein von ihm eingeleitetes Verfahren auch durchführen will. Die Regelung des § 102 Abs. 2 SGG darf weder als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder "unkooperativen Verhaltens" eingesetzt werden noch stellt die Vorschrift ein Hilfsmittel zur Erledigung lästiger Verfahren oder zur vorsorglichen Sanktionierung prozessleitender Verfügungen dar. § 102 Abs. 2 SGG soll nur die Voraussetzungen für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses festlegen und gesetzlich legitimieren (vgl. BSG Urteile vom 01.07.2010 - B 13 R 58/09, B 13 R 74/09; zur Parallelvorschrift des § 92 Abs. 2 VwGO BVerfG Beschluss vom 17.09.2012 - 1 BvR 2254/11 m.w.N.).

Bei der Beurteilung der sachlichen Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses ist auf eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls abzustellen, wobei die Umstände vor und nach Erlass der Betreibensaufforderung zu berücksichtigen sind. Prozessuale Mitwirkungsobliegenheiten können auch durch gerichtliche Anfragen entstehen. Allerdings genügt für eine Klagerücknahmefiktion nach Betreibensaufforderung nicht jegliche Verletzung einer Mitwirkungsobliegenheit. Vielmehr ist nur das Unterlassen solcher prozessualer Handlungen oder Äußerungen beachtlich, die das Sozialgericht nach seiner Rechtsansicht für entscheidungserheblich und deren Klärung es für notwendig hält (BSG Urteil vom 04.04.2017 - B 4 AS 2/16 R).

Die formellen Voraussetzungen einer Betreibensaufforderung i.S.d. § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG sind erfüllt. Sie ist vom der zuständigen Richterin verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet worden. Die Klägerin ist auf die Rechtsfolgen, die eintreten, falls sie der Aufforderung nicht innerhalb der gesetzten Frist nachkommt, hingewiesen worden. Die Betreibensaufforderung ist der Klägerin zugegangen. Sie ist unter der Zustellanschrift durch Übergabe an einen erwachsenen Familienangehörigen übergeben und damit zugestellt worden.

Die Anwendung der Klagerücknahmefunktion scheidet deshalb aus, weil keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen, die den sicheren Schluss zulassen, dass der Klägerin an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Zum einen war die Aufforderung des Sozialgerichts vor Erlass der Betreibensaufforderung nicht auf Äußerungen zu entscheidungserheblichen Tatsachen gerichtet. Es ging lediglich darum, erneut, diesmal zu dem Schriftsatz des Beklagten vom 16.09.2014, der seinerseits die Rechtsansicht des Beklagten zu dem Schriftsatz der Klägerin vom 25.07.2014 beinhaltete, eine Stellungnahme abzugeben sowie mitzuteilen, ob die Übersendung des dem Schriftsatz beigefügten Konzeptes des Beklagten erwünscht ist. Die Klägerin hat bereits mit der Begründung der Klage (Schriftsatz vom 20.03.2014) sowie im Anschluss an die Erwiderung des Beklagten (Schriftsatz vom 22.04.2014) umfassend und ausführlich dargelegt, aus welchen Gründen das Konzept des Beklagten nicht den Anforderungen der Rechtsprechung des BSG genüge und daher keine Grundlage für die Bestimmung der angemessenen Kosten für die Unterkunft und Heizung im streitigen Zeitraum sein könne. Die Klägerin hat zudem auch Beweis dafür angeboten, dass trotz intensiver Wohnungssuche nach Eigenbedarfskündigung des Vermieters kein Wohnraum zu den Konditionen des Beklagten für sich und den minderjährigen Sohn zur Verfügung gestanden habe (Schriftsatz vom 25.07.2014). Die Beteiligten haben mehrfach detailliert ihre Rechtsansichten ausgetauscht. Nach Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls vor Erlass der Betreibensaufforderung bedurfte es daher entweder Ermittlungen von Amts wegen (z.B. inwieweit der Beklagte im zweiten Halbjahr 2013 über ein schlüssiges Konzept zur Ermittlung der Referenzmiete verfügte incl. der Prüfung der konkreten Angemessenheit und der Prüfung der Voraussetzungen des § 22 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB II) oder einer Entscheidung des Rechtstreits.

Auch aus dem Verhalten der Klägerin nach Erlass der Betreibensaufforderung durfte das Sozialgericht nicht schließen, dass die Klägerin das Interesse an dem Rechtsstreit verloren hat. Zwar ist dem Sozialgericht zuzugeben, dass es der Klägerin zuzumuten gewesen wäre, eine kurze Mitteilung zu übersenden und das fortbestehende Rechtsschutzinteresse zu bekräftigen. Da jedoch die Regelung des § 102 Abs. 2 SGG nicht als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungsobliegenheiten eingesetzt werden darf und zudem nach der Rechtsprechung des BSG und des Senats als Ausnahmevorschrift eng auszulegen ist (BSG Urteil vom 04.04.2017 - B 4 AS 2/16 R; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 23.11.2017 - L 7 AS 1248/16), war aus dem Verhalten der Klägerin im vorliegenden Einzelfall nicht zu schließen, dass kein Interesse mehr an der Fortführung des Verfahrens bestanden hat. Dies folgt daraus, dass nicht bewiesen ist, dass die Klägerin tatsächlich das Verfahren länger als drei Monate nicht betrieben hat. Das Sozialgericht hätte sich im Klageverfahren (S 12 AS 2496/15) gedrängt fühlen müssen, ausgehend von dem Vortrag der Bevollmächtigten der Klägerin zu prüfen, ob die Voraussetzung des § 102 Abs. 2 SGG - "Nichtbetreiben des Verfahrens länger als drei Monate" - überhaupt vorliegt. Denn die Bevollmächtigte der Klägerin hat vorgetragen, innerhalb der Frist einen Schriftsatz übersandt zu haben und deren Aufgabe zur Post anwaltlich versichert.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.