LSG NRW - Beschluss vom 12.09.2002 - Az.: L 3 B 20/02 P |
Weiterhin sind im Vorverfahren nur 2/3 der im sozialgerichtlichen Verfahren anfallenden Gebühren anzusetzen. Der entgegenstehenden Rechtsprechung des SG Nordhausen (Az.: S 8 RJ 620/00, Neue Zeitschrift für Sozialrecht 2002 Seite 112) folgt das LSG daher nicht. ( LSG NRW Beschluss vom 04.04.2003 , Az.: L 3 B 2/03 P NZB).
Gründe:
I.
Streitig ist die Versagung von Prozesskostenhilfe wegen Mutwilligkeit in einem Rechtsstreit, in
dem es um die Zuerkennung der Pflegestufe II anstelle der anerkannten Pflegestufe I für die Zeit
von Mai 2001 bis einschließlich Februar 2002 geht.
Der im Jahr 1927 geborene und am 30.11.2002 verstorbene Kläger war bei der Beklagten
pflegeversichert und seit dem 07.12.1992 in dem Altenwohn- und Pflegeheim St. F. in A.-W.
aufgenommen. Er bezog eine Altersrente von 1131,81 DM nach dem Stand von November 2001, zudem
Pflegewohngeld nach der Pflegewohngeldverordnung NRW von im August 2001 874,58 DM zur Abdeckung
der nicht durch Leistungen der Beklagten gesicherten Unterbringungskosten. Mit Urkunde des
Amtsgerichts Ahaus vom 25.01.2002 war dem Kläger ein Betreuer für den Aufgabenkreis der
Gesundheitsfürsorge und Bestimmung des Aufenthaltes ohne Einwillungsvorbehalt bestellt worden.
Auf seinen Antrag hat die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 11.06.2001 ab dem 25.05.2001 die
Aufwendungen für Pflege, der sozialen Betreuung sowie in der Zeit vom 25.05.2001 bis zum
31.12.2001 der Aufwendungen für Leistungen der medizinischen Behandlungspflege in Höhe von
monatlich bis zu 2000,00 DM, höchstens jedoch 75 v.H. des mit der Pflegeeinrichtung vereinbarten
Heimentgeltes, befristet bis zum 31.05.2003, bewilligt. Zudem hat die Beklagte im laufenden
Gerichtsverfahren den Anspruch des Klägers auf Leistungen entsprechend der Pflegestufe II ab März
2002 anerkannt, der Kläger dies angenommen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 07.11.2002 hat die Beklagte den auf Zuerkennung der Pflegestufe II
bereits ab Mai 2001 gerichteten Widerspruch des Klägers zurückgewiesen, dieser darauf am
06.12.2001 Klage erhoben mit der Begründung, bereits seit Antragstellung habe bei ihm ein zur
Bewilligung von Leistungen nach der Pflegestufe II führender Pflegebedarf bestanden.
Die mit der Klageerhebung beantragte Bewilligung von Prozesskostenhilfe hat das Sozialgericht mit
Beschluss vom 12.09.2002 abgelehnt mit der Begründung, bei bestehender Bedürftigkeit des Klägers
und hinreichenden Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung sei Prozesskostenhilfe abzulehnen, weil
die Rechtsverfolgung mutwillig erscheine (§ 73 a Abs. 1 SGG, 114 ZPO). Der Kläger verhalte sich
mutwillig, weil er mit der Klage ein für ihn im Ergebnis finanziell nachteiliges Klageziel
verfolge, was eine verständige Person, die die Kosten ihres Prozessierens selber zahle, nicht tun
würde. Denn bei Zuerkennung von Ansprüchen nach der Pflegestufe II erhielte der Kläger zwar
höhere Leistungen der Pflegekasse, müsse jedoch wegen der Kopplung des Heimentgeltes an die
jeweilige Pflegestufe für ein weitaus höheres Heimentgelt aufkommen bzw. zu dessen Abdeckung in
weitaus höherem Umfange Sozialleistungen in Anspruch nehmen, ohne gleichzeitig andere oder
bessere Leistungen vom Heim beanspruchen zu können. Der Rechtsprechung des erkennenden Senates,
wonach in einem solchem Fall keine Mutwilligkeit im Sinne von §§ 73 a SGG, 114 ZPO anzunehmen sei
(Beschluss vom 15.05.2002 - L 3 B 7/02 P -), werde nicht gefolgt. Insbesondere sei die dort
vertretene Annahme falsch, dass auch "verständige" Pfegebedürftige, die nach ihren Verhältnissen
oder wegen des Vorhandenseins ausreichend leistungsfähiger Unterhaltspflichtiger für die
Heimkosten selber aufkommen, Anlass hätten, sich um eine Höherstufung in der Pflegeversicherung
zu bemühen. Dass auch aus der Sicht des Gesetzgebers den Heimbewohnern regelmäßig eine Motivation
fehle, sich um Zuerkennung einer höheren Pflegestufe zu bemühen, folge aus der Einführung von §
87 a Abs. 2 SGB XI mit Wirkung vom 01.01.2002 i.V.m. der Begründung der Bundesregierung hierzu
(BTDrs 14/5395) sowie dem Fehlen derartiger Klagen.
Gegen den am 16.09.2002 zugestellten Beschluss richtet sich die am 14.10.2002 eingegangene
Beschwerde des Klägers, mit der eine gegen Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes verstoßende
Einschränkung des Rechtsschutzes gerügt wird. Für die im Falle des Obsiegens höhere Zuzahlung des
Klägers zu den Pflegekosten trete der Sozialhilfeträger ein, was vom Gesetzgeber so gewollt sei.
Es seien ferner entgegen der Annahme des SG Fälle bekannt, in denen auch vermögende Personen auf
Zuerkennung höherer Pflegestufen klagten. Die Rechtsverfolgung sei daher nicht mutwillig und dem
Kläger unter Abänderung des angefochtenen Beschlusses Prozesskostenhilfe zu bewilligen.
Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen (Beschluss vom 21.10.2002, Bl. 118 PA).
Zu Einzelheiten wird auf den Inhalt der Prozessakten sowie der beigezogenen Akten der Beklagten
Bezug genommen.
II.
Der angefochtene Beschluss ist abzuändern und dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Beiordnung der
ihn vertretenen Rechtsanwältin B. zu bewilligen, weil die Voraussetzungen nach §§ 73 a Abs. 1
SGG, 114 ZPO vorliegen.
Dabei ist vom Sach- und Streitstand zum Zeitpunkt der Antragstellung (Dezember 2001) auszugehen,
so dass der Tod des Klägers im November 2002 für die hier interessierende Frage keinerlei
Auswirkungen hat. Eine Verfahrensunterbrechung ist ohnehin nicht eingetreten (§ 202 SGG, § 246
Abs. 1 Satz 1 ZP0).
Der Kläger war nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen außerstande, die
Kosten der Prozessführung ganz oder teilweise aufzubringen. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung
hat hinreichende Erfolgsaussichten in dem auch vom Sozialgericht gesehenen Sinn, dass eine
Sachentscheidung ohne weitere Ermittlungen nicht möglich sein wird.
Die Rechtsverfolgung ist nicht mutwillig. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung zu einem
gleichgelagerten Fall (Beschluss vom 15.05.2002 - L 3 B 7/02 P -) mit folgender ergänzender
Begründung fest:
Die Verengung des Prüfungsspektrums hinsichtlich des Tatbestandsmerkmales "fehlende
Mutwilligkeit" im Sinne von §§ 73 a, 114 ZPO auf das einzige Kriterium, ob die beabsichtigte
Rechtsverfolgung nach den aktuellen Verhältnissen des jeweiligen Klägers (eigene finanzielle
Situation bzw. BSHG-Bedarf, geschlossener Heimvertrag, aktuell erhobene Pflegekosten) einen
kurzfristigen finanziellen Vor- oder Nachteil verspricht, ist nicht die Sichtweise der
verständigen, ausreichend bemittelten Partei im Sinne der vom Sozialgericht zitierten
Kommentierung (Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl. München 2002, § 73a, RdNr. 8; Baumbach-Lauterbach,
ZP0, 60. Aufl., München 2002, Rdnr. 107 zu § 114). Denn der verständigen Partei ist am Erhalt der
Leistungsfähigkeit eben jener Pflegeeinrichtung gelegen, auf deren Leistungsfähigkeit sie
dringend angewiesen ist. Diese Leistungsfähigkeit hängt aber zumindest in der Tendenz davon ab,
dass der Pflegeeinrichtung zur Abdeckung des tatsächlichen Pflegeaufwandes genügende Mittel zur
Verfügung stehen.
Die Interessen der Partei sind insoweit deckungsgleich mit dem öffentlichen Interesse am Erhalt
leistungsfähiger Pflegeeinrichtungen, das durch deren Verpflichtung zu wirtschaftlichem Verhalten
(§ 72 Abs. 3 Nr. 2 SGB XI), leistungsrechtlich (§§ 41 f., 82 f. SGB XI) und mit Mitteln des
Aufsichtsrechts (§§ 9, 92a, 112 ff SGB XI) sichergestellt wird.
Doch auch ohne Berücksichtigung des vom jeweiligen Kenntnisstand abhängigen Hintergrundes wird
der im Sinne des Sozialgerichts lediglich kurzfristig und finanziell orientiert denkende
PKH-Antragsteller in der konkreten finanziellen Situation des Klägers zum Maßstab seines Handels
machen, dass er mit seiner Klage im Falle ihres Erfolges erreichen kann, dass der von ihm
genutzten Pflegeeinrichtung ein Anspruch auf Erstattung eines deutlich höheren Pflegesatzes
zukäme, den er selbst nicht erfüllen müsste, da er schon hinsichtlich der Erfüllung des
niedrigeren, der Pflegestufe I entsprechenden Pflegesatzes nicht ausreichend leistungsfähig war.
Es ist daher keineswegs zwingend, dass eine verständige Partei anstelle des Klägers von einer
Rechtsverfolgung auf eigene Kosten Abstand nähme.
Die zum weiteren Beleg dieser Annahme aufgestellte Behauptung, nicht bedürftige Kläger würden
derartige Klagen nicht erheben, mag örtlich zutreffen; Zweifel an der überörtlichen Relevanz und
empirischen Verlässigkeit dieser Aussage weckt allerdings bereits die gegenteilige Behauptung der
Kläger-Bevollmächtigten. Darüber hinaus kommt diesem Scheinargument von vornherein keine
Bedeutung zu, weil nie die Anzahl etwaiger Klagen einen Anspruch begründet oder ausschließt,
sondern nach wie vor die Erfüllung gesetzlicher Anspruchsgrundlagen über den Erfolg eines
Rechtsbehelfs entscheidet. Der Rechtsordnung ist der Grundsatz "Masse statt Klasse" fremd.
Entscheidend ist, dass das Sozialgericht mit seiner Auslegung des Begriffs der "mutwilligen
Prozessführung" im Rahmen von § 114 ZPO den Justizgewährungsanspruch des Klägers in unzulässiger,
gesetzwidriger Weise einschränkt: Es setzt seine Vorstellung von dem im Interesse des Klägers
Wünschenswerten an die Stelle des aktuell und durch seine Prozessführung dokumentiert vom Kläger
Erstrebten und behindert so potentiell, nämlich für den Fall, dass die Klage erfolgreich ist, die
Herstellung des objektiv-rechtlich anzustrebenden Zustandes.
Zwar mag es hier wie in vergleichbaren Fällen angesichts des Gesundheitszustandes der
Pflegebedürftigen und ihrer finanziellen Lage zweifelhaft erscheinen, ob das Klageverfahren
primär auf ihr Betreiben und nicht etwa auf Betreiben des finanziell interessierten Heimträgers
durchgeführt wird. Im Rahmen der Rechtsschutzverfahren der Pflegebedürftigen ist jedoch von deren
erhaltener Fähigkeit zur freien Willensbildung auszugehen und diese zu respektieren, solange sie
nicht unter Betreuung mit Einwillungsvorbehalt (§ 1903 BGB) hinsichtlich der das Verfahren
betreffenden Willenserklärung stehen oder sich konkrete Anhaltspunkte für eine Prozessunfähigkeit
ergeben, denen das Sozialgericht dann gegebenenfalls durch Bestellung eines besonderen Vertreters
(§ 72 SGG) Rechnung zu tragen hat. Die Beschränkung des Rechtsschutzes durch Verweigerung von
Prozesskostenhilfe ist jedenfalls der falsche Weg. Ist zudem, wie hier, ein ohne
Einwilligungsvorbehalt bestellter Vertreter in das Verfahren eingetreten und hat die
Prozessführung gestützt, missachtet das Sozialgericht mit seiner Auslegung des Begriffes
"mutwillige Prozessführung" zugleich dessen Rolle: Der Betreuer, nicht das Sozialgericht wacht im
Rahmen des bestehenden Aufgabenkreises über die Interessen des Betreuten (§ 1901 BGB).
Die Auslegung des Sozialgerichts führt weiter zu einer Behinderung der Durchsetzung des
objektiv-rechtlich gewünschten Rechtszustandes, zu dessen Herstellung die Justiz wegen ihrer
Bindung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) beizutragen hat. Dieser besteht darin, dass
Pflegebedürftige die ihrem Pflegebedarf entsprechende Pflegestufe nach dem SGB XI mit allen sich
aus diesem und anderem geltendem Recht ergebenden Konsequenzen erhalten. Ob die Auslegung des
Sozialgerichts vor diesem Hintergrund lediglich bedenklich oder im Sinne der Beschwerdebegründung
grundgesetzwidrig ist, kann dahinstehen. Denn im vorliegenden Fall hat der Gesetzgeber bereits
durch eine einfach-gesetzliche Maßnahme, nämlich die auch vom Sozialgericht zur Begründung seiner
Ansicht angeführte Einführung von § 87 a Abs. 2 SGB XI mit Wirkung ab dem 01.01.2002 zu erkennen
gegeben, dass er der Durchsetzung des objektiv rechtlich gewollten Zustandes Vorrang sogar
gegenüber dem entgegenstehenden Willen des Pflegebedürftigen einräumt. Die Vorschrift sichert die
Herstellung des objektiv-rechtlich gewünschten Rechtszustandes (BT-Drs 14/5395: "...sichert
andererseits - im Interesse einer ausreichenden Finanzierung der Pflegeheimleistungen - zugleich
eine leistungsgerechte Vergütung der jedem einzelnen Pflegebedürftigen nach dem Gesetz
zustehenden bedarfsgerechten Versorgung und Betreuung."), indem sie es dem Träger der
Pflegeeinrichtung erlaubt, vorläufig den Pflegesatz der nächst höheren Pflegeklasse zu berechnen,
obwohl der Heimbewohner sich pflichtwidrig (§ 87 a Abs. 2 S. 1 SGB XI) geweigert hat, die seinem
Zustand entsprechende höhere Pflegestufe zu beantragen. Dieser mittelbare Druck auf die
Pflegebedürftigen zur Herstellung des vom Gesetz angestrebten Zustandes qua Antragstellung wird
nicht nur ohne Differenzierung danach ausgeübt, ob die Antragstellung selbst dem
Pflegebedürftigen finanziell vorteilhaft ist. Die Erkenntnis, dass die Differenz zum Heimentgelt
in der höheren Vergütungsklasse häufig nicht voll durch die höheren Leistungen der
Pflegeversicherung in der höheren Pflegestufe aufgefangen wird, ist vielmehr wörtlicher
Bestandteil der Gesetzesbegründung geworden (BT-Drs 14/5395: "In der Praxis hat sich gezeigt,
dass pflegebedürftige Heimbewohner bei einem verschlechterten Zustand einen Antrag bei der
Pflegekasse auf Höherstufung scheuen. Dies hängt damit zusammen, dass die Differenz zum
Heimentgelt in der höheren Vergütungsklasse häufig nicht voll durch Leistungen der
Pflegeversicherung aufgefangen wird ...").
In der Konsequenz des angefochtenen Beschlusses nach Inkrafttreten des § 87 a Abs. 2 SGB XI bei
der Überprüfung des Kriteriums "nicht mutwillig" im Sinne von §§ 73 a SGG, 114 ZPO läge es,
danach zu differenzieren, ob der jeweilige Pflegeversicherte aktuell bereits unter Zugrundelegung
einer fiktiven höheren Pflegestufe in Anspruch genommen wird oder nicht. In dem Fall, dass der
Pflegeversicherte bereits aktuell dem finanziellen Druck durch Berechnung des nächst höheren
Pflegesatzes ausgesetzt ist, wäre seine Prozessführung als wirtschaftlich sinnvoll und daher
nicht mutwillig, ohne diesen allein im Belieben der Heimleitung stehenden Zwang dagegen
mutwillig. Anders ausgedrückt: Der verständige Pflegebedürftige, der sich bereits ohne Ausübung
des nach § 87 a SGB XI möglichen finanziellen Druckes auf ihn der Einsicht beugt, dass er durch
Antragstellung und ggfls. Weiterverfolgung seines Anspruches auf Zuerkennung einer seinem
tatsächlichen Gesundheitzustand entsprechenden Pflegestufe dazu beizutragen hat, dass die
Pflegesätze dem Pflegeaufwand entsprechen, handelte bei Weiterverwendung des vom Sozialgericht
angelegten Maßstabes mutwillig und könnte keine Prozesskostenhilfe bekommen sowie umgekehrt. Eine
solche Handhabung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe liefe nicht nur den Zielen des SGB XI
zuwider. Sie erscheint insbesondere aber auch im Interesse der Pflegebedürftigen als nicht
wünschenswert. Letztlich liefe die Ansicht des Sozialgerichts auch darauf hinaus, den
Versicherten zu einem vertragswidrigen und sozialschädlichen Verhalten (ein Mehr an Leistungen
wird ohne entsprechende Gegenleistung in Anspruch genommen) zu veranlassen.
Diese Entscheidung ist - außer für die Staatskasse im Falle des § 127 Abs. 3 ZPO - unanfechtbar,
§ 177 SGG.