LSG NRW - Az.: L 3 B 2/03 P NZB - Beschluss vom 04.04.2003

1. Eine Anhebung der Pflegestufe kann  für den Behinderten nachteilig sein, wenn – was der Regelfall ist – die Erhöhung des Heimentgeltes den Erhöhungsbetrag wegen der höheren Pfllegestufe übersteigt.

2. Ein Pflegebedürftiger der – auch auf Druck des Heimes – Prozesskostenhilfe beantragt um eine höhere Pflegestufe einzuklagen handelt gleichwohl nicht mutwillig im Sinne § 114 ZPO und hat Anspruch auf Prozesskostenhilfe.
 
 

Gründe

I.

Die Klägerin erstrebt die Zulassung der Berufung gegen ein die Kostenerstattung für ein
isoliertes Vorverfahren betreffendes Urteil.

Die Klägerin hat ihren Widerspruch gegen den Entzug der zuvor bezogenen Pflegeleistungen der
Stufe I nach dem SGB XI für erledigt erklärt, nachdem die Beklagte auf den Widerspruch hin
mitgeteilt hatte, dass sie von ihrem Vorhaben absehen werde.

Mit Kostennote vom 19.10.2001 stellte der Bevollmächtigte Gebühren nach § 12, 24, 116 Abs. 1 und
3 BRAGO von 1300,00 DM sowie nach § 26 BRAGO von 40,00 DM zuzüglich 16 % Mehrwertsteuer,
insgesamt 1540,40 DM (arithmetisch richtig: 1554,40 DM) in Rechnung.

Mit Bescheid vom 10.12.2001 erklärte sich die Beklagte zu einer Kostenerstattung von 1051,72 DM
(§ 116 Abs. 1, 3 BRAGO analog: 866,66 DM, d.i. 2/3 von 1300,00 DM, § 26 BRAGO 40,00 DM, 145,06 DM
Mehrwertsteuer) bereit, da zwar von einem überdurchschnittlichen Verfahren auszugehen sei, für
das im Sozialgerichtsverfahren eine Gebühr von 1255,00 DM angemessen gewesen wäre. Für das
Vorverfahren seien jedoch nur 2/3 der im sozialgerichtlichen Verfahren anfallenden Gebühren
anzusetzen.

Den unter Hinweis auf die angenommene ganz besondere Wichtigkeit und Bedeutung, den
überdurchschnittlichen Aufwand und Schwierigkeitsgrad und die von der Beklagten ebenso erkannte
besondere Mitwirkung an der Erledigung des Rechtsstreits (§§ 116 Abs. 3, 24 BRAGO) begründeten
Widerspruch wies die Beklagte mit Bescheid vom 12.04.2002 zurück.

Mit der Klage zum Sozialgericht hat die Klägerin den Ansatz einer Höchstgebühr als durchaus
angemessen angesehen, da es sich bei der gesetzlichen Pflegeversicherung um eine Spezialmaterie
mit dem Erfordernis besonderen Fachwissens und eines enormen Zeitaufwandes handele. Außerdem
bestehe eine große wirtschaftliche Bedeutung für die Klägerin. Zudem habe es eines
außerordentlichen und zeitaufwendigen Studiums des Pflegegutachtens und der Erarbeitung von
medizinischen und physiologischen Kenntnissen bedurft. Nur auf diese akribische Tätigkeit sei die
volle Abhilfe im Widerspruchsverfahren zurückzuführen.

Mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 10.01.2003 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen:
Die Kostenerstattung der Beklagten entspreche der Rechtslage, der Gebührenansatz des
Bevollmächtigten der Klägerin sei unbillig hoch. Hinweise auf eine besondere Bedeutung der Sache
für die Klägerin gebe es genausowenig wie Hinweise auf einen überdurchschnittlichen Aufwand des
Bevollmächtigten.

Entsprechend der Rechtsmittelbelehrung in dem am 21.01.2003 zugestellten Urteil hat die Klägerin
beim Sozialgericht am 22.01.2003 und am 24.01.2003 beim Landessozialgericht
Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt und diese mit der vom Sozialgericht übersehenen
grundsätzlichen Bedeutung sowie Verfahrensmängeln begründet. Die grundsätzliche Bedeutung ergebe
sich daraus, dass der Gesetzgeber zu erkennen gegeben habe, dass an der Reduzierung des
Gebührenrahmens für das Vorverfahren nicht festzuhalten sei. Der Verfahrensfehler ergebe sich
daraus, dass das Sozialgericht zu Umfang und Schwierigkeit der Tätigkeit des Bevollmächtigten und
der wirtschaftlichen Bedeutung für die Klägerin keine konkreten Feststellungen getroffen habe.
 

II.

Die entsprechend der Rechtsmittelbelehrung des Urteiles, jedoch entgegen § 145 Abs. 1 Satz 2 SGG
in der Fassung des 6. SGG-Änderungsgesetzes vom 17.08.2001 (BGBl I S. 2144) zunächst beim
Sozialgericht eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde ist noch rechtzeitig am Landessozialgericht
eingegangen und auch im Übrigen zulässig.

Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Denn weder ist die Berufung gegen das Urteil bereits kraft
Gesetzes zulässig noch hat das Sozialgericht einen der Zulassungsgründe nach § 144 Abs. 2 Nrn. 1
- 3 SGG verkannt.

Die im Grundsatz nach § 143 SGG statthafte Berufung ist hier kraft Gesetzes ausgeschlossen.

Die Berufung ist allerdings nicht bereits nach § 144 Abs. 4 SGG deswegen ausgeschlossen, weil es
sich um die Kosten des Verfahrens handelte. Denn im Klageverfahren gegen nach § 63 SGB X
ergangene Verwaltungsakte sind die Kosten eines isolierten Vorverfahrens einziger Gegenstand und
damit Hauptsache der Klage, nicht aber Kosten des Verfahrens (BSG, Urteil vom 25.10.1984 - 11 RA
29/84 = SozR 1500 § 144 Nr. 27, Urteil vom 10.09.1997 - 9 BVs 12/97 -).

Die Berufung bedürfte jedoch nach § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG der Zulassung, da die als Differenz
zwischen der von der Beklagten anerkannten und der verlangten Gebührenerstattung zu bemessende
Beschwer (nach Berechnung/Schätzung des Klägerbevollmächtigten Bl. 31 VA: 488,68 DM, arithmetisch
richtig: 502,68 DM) unter 500,00 EURO liegt.

Zulassungsgründe nach § 144 Abs. 2 SGG bestehen hingegen nicht.
Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG, da sie
keine bisher nicht geklärte Rechtsfrage aufwirft, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt,
um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern (Meyer-Ladewig,
SGG, 7. Aufl. 2002, Rdnr. 28 zu § 144 zu diesen Kriterien).

Denn die insoweit angesprochene Reduzierung des Kostenerstattungsrahmens für das isolierte
Vorverfahren im Verhältnis zum Kostenerstattungsrahmen für gerichtliche Verfahren (zur
praktischen Anwendung: Schroeder-Printzen, SGB X, 3. Aufl. 1996, Rn 16 im Anhang zu § 63) beruht
auf langjährig konstanter, ihrerseits auf gute Gründe gestützter Rechtsprechung der Obergerichte.
 

Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtssprechung ist die im Vorverfahren zu erstattende,
gesetzlich nicht geregelte Gebühr durch entsprechende Anwendung des (reduzierten) Gebührenrahmens
für das gerichtliche Verfahren zu ermitteln (BGHE 48, 134, 138; BSG, Urteil vom 07.12.1983 - 9
RVs 5/82 = SozR 1300 § 63 Nr. 2; BSG, Urteil vom 22.03.1984 - 11 Ar 16/83, SozR 1300 § 63 Nr. 3;
BSG, Urteil vom 22.03.1984, - 11 Ar 58/83 - = SozR 1300 § 63 Nr. 4; BSG, Urteil vom 24.07.1986, -
7 RA 86/84 -; BSG, Urteil vom 29.10.1987, - 11 b RA 28/86 - jeweils mit weiteren Nachweisen).
Hiernach sind die für die verschiedenen Instanzen des gerichtlichen Verfahrens gestuft
vorgesehenen Gebührenrahmen des § 116 BRAGO für das Verwaltungsverfahren mit Rücksicht auf den
dort regelmäßig geringeren Aufwand zu reduzieren.

Die so festzustellende höchstrichterliche Klärung der aufgeworfenen Rechtsfrage wird weder durch
die Argumentation der Nichtzulassungsbeschwerde noch durch Besonderheiten des Einzelfalles in
Frage gestellt. Das angeführte Urteil des SG Nordhausen vom 23.08.2001 - S 8 RJ 620/00, NZS 2002,
112 - nimmt der Senat zur Kenntnis, folgt ihm aber nicht. Das SG hat sich a.a.O. mit der
erwähnten obergerichtlichen Rechtssprechung in keiner Weise auseinandergesetzt. Der Hinweis auf
die Erhöhung des Gebührenrahmens nach § 23 BRAGO für die Mitwirkung an z.B. außergerichtlichen
Vergleichen führt nicht weiter, weil hier weder ein Vergleich geschlossen worden ist noch eine
zur Erweiterung des Gebührenrahmens nach § 116 Abs. 3 ZPO berechtigende Mitwirkungshandlung
überhaupt festzustellen ist - dazu unten -.

Der Hinweis auf die Gebührenberechnung nach der Gebühr im Strafprozess bei nur vorläufiger
Einstellung des Strafverfahrens (§ 84 BRAGO) betrifft eine andere Gebühr für eine dem
sozialgerichtlichen Verfahren in keiner erkennbaren Hinsicht vergleichbare
Verfahrenskonstellation innerhalb einer völlig andersartigen Verfahrensordnung. Ein Zusammenhang
ist nicht erkennbar.

Besonderheiten des konkreten Falles leiten den Blick nicht auf eine ungeklärte Rechtsfrage von
grundsätzlicher Bedeutung, da es sich um einen nach der finanziellen Bedeutung für die Klägerin,
der rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeit und dem Umfang der anwaltlichen Tätigkeit nach
allen falls durchschnittlichen Fall im Sinne der Gebührenbemessung handelt, der tatbestandliche
Besonderheiten nicht aufweist.

Der Zulassungsgrund nach § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG (Abweichung von obergerichtlicher Rechtsprechung)
liegt auch nicht vor, weil das Sozialgericht seiner Beurteilung sowohl hinsichtlich des
Gebührenrahmens als auch hinsichtlich der Ausfüllung des Begriffsmerkmales "unbillig" im Sinne
von § 12 Abs. 1 Satz 2 BRAGO die in Rechtsprechung und Kommentierung (u.a.: Hartmann,
Kostengesetze, 29. Auflage 2000, Rdnrn. 3 f. zu § 12 BRAGO m.w.N.) anerkannten Maßstäbe
zugrundegelegt hat.

Der Zulassungsgrund nach § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG (Verfahrensmangel, der der Beurteilung des
Berufungsgerichts unterliegt und auf dem die Entscheidung beruhen kann) liegt gleichfalls nicht
vor.

Die insoweit aufgestellte Behauptung, das Sozialgericht habe es unterlassen, konkrete
Feststellungen zu Umfang und Schwierigkeit der Tätigkeit des Prozessbevollmächtigten sowie zur
wirtschaftlichen Bedeutung der Weitergewährung des Pflegegeldes für die Klägerin zu treffen, legt
keinen Verfahrensfehler dar: Abgesehen davon, dass das Sozialgericht tatsächlich den
quantitativen Niederschlag der Tätigkeit (zweieinhalb Seiten zur Sache im Widerspruchsverfahren
gegenüber nunmehr 9 Seiten zur Kostenfrage) erwähnt und darauf hingewiesen hat, dass es mangels
näherer Darlegung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Klägerin nicht erkennbar sei,
dass Pflegeleistungen der Pflegestufe I für sie von überragender wirtschaftlicher Bedeutung
seien, legt die Beschwerdebegründung nicht offen, welche andere Rechtsfolge sich aus welcher
anderen (weiteren) Feststellung ergeben haben könnte. Das Ergebnis jedenfalls dürfte sich auch
bei weiteren konkreten Feststellungen - dies müsste für einen fachlich versierten
Verfahrensbeteiligten im Grunde evident sein - nicht anders darstellen: Der Gebührenrahmen des
§ 116 SGG muss auch rechtlich und tatbestandlich schwierigen und aufwändigen Verfahren mit - wie
bei existenzsichernden Dauerleistungen z.B. Renten - großer finanzieller Bedeutung für die
Beteiligten gerecht werden; seine volle Ausschöpfung in einer Pflegesache scheidet evident aus,
ein Rechtsfehler ist daher insoweit nicht dargelegt.

Hinsichtlich der Anwendung des erweiterten Gebührenrahmens nach § 116 Abs. 3 S. 2 BRAGO
allerdings liegt ein Rechtsanwendungsfehler vor: Eine Erhöhung der Rahmengebühr nach § 116 Abs. 3
Satz 2 BRAGO findet nur in Fällen statt, in denen die Beteiligten durch gegenseitiges Nachgeben
ein Klageverfahren vermieden haben und somit von einer vergleichsähnlichen Erledigung des
Verwaltungsverfahrens auszugehen ist (BSG, Urteil vom 09.08.1995 - 9 RVs 7/94 = SozR 3 1930 § 116
Nr. 7; BSG, Urteil vom 12.06.1996, - 5 RJ 86/95= SozR 3 1930 § 116 Nr. 9; BSG, Urteil vom 10.
September 1997, - 9 BVs 12/97 -). An einem gegenseitigen Nachgeben fehlt es insbesondere dann,
wenn dem Widerspruch voll abgeholfen wird (BSG, Urteil vom 09.08.1995, - 9 RVs 7/94, SozR 3 1930,
§ 116 Nr. 7). Umfang, Schwierigkeit und Intensität der Tätigkeit eines Bevollmächtigten führen in
keinem Fall zu einer zusätzlichen Erfolgsgebühr sein Mitwirken bei der Erledigung einer
Rechtssache nur dann, wenn der Streit wegen der Besonderheiten des Verwaltungsverfahrens zwar
nicht der Form aber dem Inhalt nach vergleichsweise beigelegt wird. Denn die Erhöhung des
Gebührenrahmens, der anstelle der Zusatzgebühr nach § 24 BRAGO im sozialgerichtlichen Verfahren
vorgesehen ist, soll der Tatsache Rechnung tragen, dass hier ebenso wie im allgemeinen
Verwaltungsrecht eine gütliche Beilegung häufig nicht durch förmlichen Vergleich sondern durch
Teilabhilfe und Teilrücknahme des Antrags erfolgt (BSG, a.a.O.).

Eine Vermeidung dieses Rechtsanwendungsfehlers ist im von der Beklagten wahrzunehmenden Interesse
ihrer Beitragszahler wünschenswert, stellt jedoch keinen zur Zulassung der Berufung führenden
Verfahrensmangel im Sinne von § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG dar, auf dem die Entscheidung beruhen
könnte. Denn die korrekte Nichtberücksichtigung des nach § 116 Abs. 3 Satz 2 BRAGO erweiterten

Gebührenrahmens hätte erst recht zur Feststellung führen müssen, dass die Gebührenbestimmung des
Kläger-Bevollmächtigten unbillig im Sinne von § 12 BRAGO war.

Mit der Ablehnung der Nichtzulassungsbeschwerde ist das Urteil rechtskräftig geworden (§ 145 Abs.
4 Satz 3 SGG). Dieser Beschluss ist nach § 177 SGG endgültig.