Schl.-Holst. LSG - Urteil vom 30.03.2005 - Az.: L 2 VG 1/03 


Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob das beklagte Land dem Kläger Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) zu gewähren hat.

Der 1964 geborene Kläger wurde am 13. Juni 1998 von seinem damaligen Freund aus unmittelbarer Nähe in den Rücken geschossen und dabei lebensgefährlich verletzt. Dem Kläger musste die rechte Niere entfernt werden, und er ist seitdem querschnittsgelähmt.

Der Kläger war bereits in der Zeit von 1987 bis 1992 heroinabhängig. Anschließend nahm er bis 1996 an einem Methadonprogramm teil. Er gehörte zu einer Gruppe von jüngeren Arbeitslosen, die oft tage- und nächtelang zusammen Alkohol und Drogen konsumierten. In seiner Gruppe war er dafür bekannt, dass er in stark alkoholisiertem Zustand und unter Drogeneinfluss gelegentlich "ausrastete". So hatte er einem Mitglied seiner Gruppe, C S , im März 1996 mit einem Brotmesser zwei Stiche in die Nase, einen Stich in die linke Augenbraue sowie einen Stich mittig in die Brust versetzt, weil sich der C S in einen Streit zwischen dem Kläger und dessen Freundin eingemischt hatte. Es gehörte zu den Geflogenheiten dieser Gruppe, gelegentlich Schießübungen in den Wohnungen abzuhalten. Der Kläger hatte gemeinsam mit dem späteren Schädiger häufiger in der Wohnung des Schädigers mit einer Luftpistole und auch mit einem Gewehr geschossen. Auch war der Kläger im Besitz einer einschüssigen Schrotflinte der Marke "Baikal". Diese Schrotflinte gab der Kläger im März 1998 zusammen mit einer Handvoll dazugehöriger Munition an den Schädiger zur Aufbewahrung weiter. Die Schrotflinte wurde im Schlafzimmer seiner Wohnung aufbewahrt.

In der Nacht vom 12. auf den 13. Juni 1998 suchte der Schädiger gemeinsam mit zwei weiteren Mitgliedern der oben bezeichneten Gruppe den Kläger in seiner Wohnung auf, wo sie Alkohol tranken. Der Kläger und der spätere Schädiger konsumierten gemeinsam eine "Nase Heroin", die der Kläger ausgab. Der Kläger verkaufte dem Schädiger außerdem ein halbes Gramm Kokain zum Preis von 60,00 DM. Da der Schädiger kein Geld dabei hatte, sollte er die 60,00 DM am nächsten Tag an den Kläger bezahlen. Das halbe Gramm Kokain konsumierte der Kläger gemeinsam mit dem Schädiger in der Nacht. Sie schliefen in dieser Nacht nicht und beschlossen am Morgen, zusammen in die Stadt zu gehen, wo sie einige Dosen Bier tranken und Haschisch rauchten. Der Schädiger verkaufte an eine unbekannte Person für 20,00 DM Haschisch, damit er wenigstens etwas Bargeld bei sich hatte. Am Nachmittag ging der Kläger gemeinsam mit dem Schädiger zurück zur Wohnung des Klägers. Dort machte der Schädiger, der dem Kläger wegen des halben Gramms Kokain noch 60,00 DM schuldete, den Vorschlag, für seine letzten 20,00 DM Bier zu holen und dem Kläger am nächsten Tag noch seine Restschulden in Höhe von nur noch 40,00 DM zu zahlen. Darüber kam es zwischen dem Kläger und dem Schädiger zum Streit. Der Kläger machte geltend, er fühle sich vom Schädiger betrogen. Er regte sich immer mehr auf, so dass er schließlich den Schädiger packte und wiederholt die sofortige Herausgabe der 60,00 DM verlangte. Aus diesem Grund machte sich der Schädiger gemeinsam mit dessen Ehefrau und dem Kläger auf den Weg zur Wohnung des Schädigers. Gleich nach Verlassen der Wohnung des Klägers stieß der immer noch wütende Kläger den späteren Schädiger einige Stufen der Treppe hinunter. Dabei stieß der Schädiger mit einem Knie und auch seinem Kopf gegen das Treppengeländer. Auf der Straße vor dem Wohnhaus des Klägers schlug der Kläger den Schädiger gegen den Kopf ("Kopfnüsse"). Dadurch platzte die Augenbraue des Schädigers auf, und er wurde schmerzhaft an der Nasenwurzel getroffen. Ferner schlug der Kläger dem Schädiger ins Gesicht, wobei der Mund des Schädigers getroffen wurde. Auch schlug der Kläger die Ehefrau des Schädigers ins Gesicht. Dem Schädiger und seiner Ehefrau gelang es schließlich, zu flüchten und sie begaben sich zurück zu ihrer Wohnung, während der Kläger zunächst seine Mutter aufsuchte und sich von dort zur Wohnung des Schädigers begab. Dort stellte er sich unter den Balkon der Wohnung des Schädigers und sprach laut mit einer nicht bekannten Person. Er behauptete, dass der Schädiger verrückt sei, eine Schrotflinte habe, und alle "abschießen" werde. Gleichzeitig warf er eine Bierdose auf den Balkon des Schädigers und begab sich anschließend zur Wohnungstür. Er klopfte gegen die Tür und lärmte im Treppenhaus. Daraufhin ließ der Schädiger den Kläger in seine Wohnung herein. Der Kläger verlangte die Bezahlung seiner Schulden in Höhe von 60,00 DM, die er von dem Schädiger auch erhielt. Außerdem forderte er vom Schädiger die Herausgabe der zur Verwahrung überlassenen Schrotflinte. Der Schädiger verweigerte die Herausgabe der Schrotflinte mit der Begründung, dass der Kläger betrunken und aggressiv reagiere. Schließlich verließ der Kläger mit den 60,00 DM, aber ohne seine Schrotflinte die Wohnung des Schädigers. Der Kläger begab sich erneut zu seiner Mutter, wo er weiter Alkohol konsumierte. Dann begab sich der Kläger erneut zur Wohnung des Schädigers und klopfte an dessen Tür. Der Schädiger dachte, seine Ehefrau, die sich zu einer nahe gelegenen Tankstelle begeben hatte, um Bier und Zigaretten einzukaufen, stünde vor der Tür und öffnete diese. Stattdessen stand dort der Kläger, der sich sofort in die Wohnung begab und sich im Wohnzimmer auf das Sofa setzte. Er forderte erneut in aggressivem Tonfall die Zahlung der 60,00 DM. Der Schädiger lehnte eine Zahlung ab, da er diese bereits beim ersten Besuch des Klägers geleistet hatte. Schließlich erschien die Ehefrau des Schädigers wieder in der Wohnung und legte die gerade eingekaufte Schachtel Zigaretten auf den Wohnzimmertisch. Sie forderte den Kläger mehrfach erfolglos auf, die Wohnung zu verlassen. Schließlich machte der Kläger doch Anstalten, die Wohnung zu verlassen. Er stand vom Sofa auf und griff sich die Zigarettenschachtel, die die Ehefrau des Schädigers auf den Tisch gelegt hatte, und steckte sie in seine Jackentasche. Daraufhin griff die Ehefrau des Schädigers in die Jacke des Klägers und holte die Zigarettenschachtel wieder heraus. Der Kläger wurde jetzt sehr wütend und begann, auf die Ehefrau des Schädigers einzuschlagen. Er bezeichnete sie als "Hure, Fotze". Dann zog er an ihren Haaren und drehte ihren Arm so um, dass sie auf den Boden vor einem Sessel auf den Knien zu liegen kam. Gleichzeitig schlug er weiter mit flacher Hand auf sie ein, so dass sie blaue Flecken am Hals, eine Schürfwunde am linken Arm und Schmerzen an den Rippen davontrug. Der Schädiger wusste nicht, wie er reagieren sollte. Deshalb sagte seine Ehefrau zu ihm, dass er sich nicht einmischen solle. Sie befürchtete, dass der Kläger den Schädiger stärker attackieren würde und so die Situation eskalieren könnte. Der Kläger beschimpfte daraufhin den Schädiger als "Schlappschwanz" und behauptete, dass dieser nicht in der Lage sei, seine Ehefrau zu verteidigen. Deshalb sei er - der Schädiger - als nächstes dran. Der Schädiger ging nun zum Telefon und versuchte, die Polizei anzurufen. Dies verhinderte der Kläger, indem er am Kabel des Telefons so stark riss, dass sich die Telefondose etwas lockerte. Außerdem rief der Kläger, dass "keine Bullen gerufen werden". Der Schädiger telefonierte daraufhin nicht und verließ das Wohnzimmer in Richtung Schlafzimmer. Die Ehefrau des Schädigers forderte den Kläger erneut auf, die Wohnung zu verlassen. Daraufhin ging der Kläger zu der im Sessel sitzenden Ehefrau des Schädigers, rüttelte an ihr und versuchte, sie vom Sessel zu zerren. Dabei stand er mit dem Rücken zur Schlafzimmertür. In diesem Augenblick kam der Schädiger mit der Schrotflinte, die sich geladen im Schlafzimmer befunden hatte, zurück in das Wohnzimmer. Er hielt die Schrotflinte waagerecht in Hüfthöhe, machte zwei Schritte auf den Kläger zu und schoss dem Kläger ohne Vorwarnung eine Ladung Schrotmunition aus unmittelbarer Nähe (Distanz unter 30 cm, möglicherweise aufgesetzter Schuss) in den Rücken. Danach sagte er, dass sich niemand erlauben dürfe, seine Ehefrau so zu behandeln.

Der lebensgefährlich verletzte Kläger wurde im Krankenhaus versorgt. Dort wurde eine Blutalkoholkonzentration von 2,76 ‰ ermittelt. Nach einem im staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren eingeholten Gutachten des Prof. Dr. P , Institut für Rechtsmedizin der Universität H , vom 15. Juni 1998 war danach zur Tatzeit von einer Blutalkoholkonzentration von 2,8 ‰ auszugehen. Unter einer wirksamen Konzentration von Medikamenten oder anderen Drogen stand er nicht mehr.

Der Schädiger wurde mit Urteil des Landgerichts Itzehoe vom 11. Mai 1999 wegen schwerer Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Dabei ging das Landgericht davon aus, dass Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe nicht gegeben seien. Notwehr oder Nothilfe im Sinne von § 32 StGB liege nicht vor, weil nicht festgestellt werden könne, dass der Schädiger mit Verteidigungswillen gehandelt habe. Vielmehr deute das gesamte Verhalten des Schädigers darauf hin, dass er den Kläger habe bestrafen wollen. Bei der Strafzumessung hat das Landgericht u. a. berücksichtigt, dass das Verhalten des Klägers zur Affekthandlung des Schädigers geführt habe. Deshalb ist das Landgericht von verminderter Schuldfähigkeit des Schädigers bei Begehung der Tat (§ 21 StGB) ausgegangen.

Am 17. Juli 1998 beantragte der Kläger durch den Sozialdienst des Krankenhauses bei der Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Das beklagte Land zog die das o.g. Strafverfahren gegen den Schädiger betreffenden Akten der Staatsanwaltschaft Itzehoe (Gz.: 3150 Js 10943/98) bei und lehnte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 16. Februar 2000 ab. Zur Begründung führte das beklagte Land im Wesentlichen aus: Zwar sei wohl davon auszugehen, dass der Schuss von dem Schädiger im Rahmen einer Angriffs- und nicht im Rahmen einer Abwehrhandlung abgegeben worden sei. Die beantragte Leistung sei nach dem in der Entscheidung des Landgerichts Itzehoe festgestellten Sachverhalt jedoch gem. § 2 Abs. 1 OEG zu versagen. Der Kläger habe die Körperverletzung durch sein leichtfertiges und in hohem Grade vernunftwidriges Verhalten herausgefordert, so dass es im Sinne von § 2 Abs. 1 OEG unbillig wäre, ihm Entschädigung zu gewähren.

Zur Begründung des dagegen am 23. Februar 2000 eingelegten Widerspruchs machte der Kläger im Wesentlichen geltend, dass er zum Tatzeitpunkt schuldunfähig gewesen sei. Das ergebe sich aus der im Krankenhaus festgestellten Blutalkoholkonzentration von 2,76 ‰. Das beklagte Land sei danach zu Unrecht davon ausgegangen, dass er die Gewalttat leichtfertig und in hohem Grade vernunftwidrig herausgefordert habe.

Mit Widerspruchsbescheid vom 24. Juli 2000 wies das beklagte Land den Widerspruch des Klägers zurück und führte zur Begründung im Wesentlichen aus: Das OEG normiere durch den Leistungsausschluss des § 2 die Erkenntnis, dass das Verhalten des Opfers für die Entstehung und Ermöglichung von Straftaten erhebliche Bedeutung erlangen könne. Ohne die in § 2 Abs. 1 OEG angeführte Generalklausel wäre es nicht möglich, das Entschädigungssystem gerecht zu handhaben. Das Verhalten des Antragstellers, das zum Leistungsausschluss führe, könne in unmittelbarem und mittelbarem Zusammenhang mit dem schädigenden Ereignis stehen, ohne dass der Anspruchsteller eine wesentliche Bedingung für den Eintritt der Schädigung selbst gesetzt haben müsse. Der Kläger habe den Schädiger und dessen Ehefrau mit erheblicher krimineller Energie körperlich misshandelt. Auf die Darstellungen in dem Strafurteil des Landgerichts Itzehoe werde hingewiesen.

Zur Begründung der dagegen am 25. August 2000 erhobenen Klage hat der Kläger sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und ergänzend im Wesentlichen vorgetragen, dass die Unbilligkeit im Sinne des § 2 Abs. 1 OEG zum einen ein sozial schädliches Verhalten des Opfers voraussetze. Zum anderen müsse beim Opfer die Erkenntnis vorgelegen haben, dass es sich durch sein Verhalten in eine Gefahrenlage begebe. Die notwendige Erkenntnisfähigkeit habe bei dem Kläger nicht vorgelegen, weil er angesichts einer Blutalkoholkonzentration von 2,8 ‰ zum Zeitpunkt der Schädigung absolut schuldunfähig gewesen sei.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des beklagten Landes vom 16. Februar 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24. Juli 2000 aufzuheben und das beklagte Land zu verurteilen, ihm unter Anerkennung einer Querschnittslähmung als Schädigungsfolge Leistungen nach dem OEG zu gewähren.

Das beklagte Land hat sich auf die Begründung der angefochtenen Bescheide bezogen und beantragt,

die Klage abzuweisen.

Mit Urteil vom 7. November 2002 hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben und das beklagte Land verurteilt, dem Kläger unter Anerkennung einer Querschnittslähmung als Schädigungsfolge Leistungen nach dem OEG zu gewähren. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt: Die den Anspruch auf Versorgung gemäß § 1 Abs. 1 OEG begründenden Voraussetzungen seien im vorliegenden Fall unstreitig erfüllt. Es bestehe kein Zweifel daran, dass der Kläger Opfer eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden sei und hierdurch die gesundheitliche Schädigung in Form der Querschnittslähmung erlitten habe. Zu Unrecht habe das beklagte Land einen Versagungsgrund gemäß § 2 Abs. 1 OEG bejaht. Es sei weder der Versagungsgrund der Mitverursachung (§ 2 Abs. 1 Satz 1 1. Altern. OEG) noch der Versagungsgrund der Unbilligkeit (2. Altern.) festzustellen. Dabei sei die Mitverursachung ein Sonderfall des an zweiter Stelle genannten Versagungsgrundes Unbilligkeit, der abschließend regele, wann die unmittelbare Tatbeteiligung des Geschädigten Leistungen ausschließe. Zum Bereich der Mitursächlichkeit gehörten alle unmittelbaren, nach natürlicher Betrachtungsweise mit dem eigentlichen schädigenden Tatgeschehen insbesondere auch zeitlich eng verbundenen Umstände, während alle nicht unmittelbaren, lediglich erfolgsfördernden Umstände, d. h. typischerweise die Vorgeschichte der eigentlichen Gewalttat im Rahmen der Unbilligkeit zu prüfen seien. Darüber hinaus könnten auch sonstige Gründe zur Unbilligkeit einer Entschädigung führen. Sei eine Entschädigung aus sonstigen Gründen oder aus einem dem Tatgeschehen nicht unmittelbar vorangegangenen Verhalten des Opfers unbillig, seien dies Fälle der zweiten Alternative der Vorschrift, also der Unbilligkeit als Generalklausel. Eine Mitverursachung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG könne nur angenommen werden, wenn der Tatbeitrag des Opfers nach der auch im Opferentschädigungsrecht anwendbaren versorgungsrechtlichen Kausalitätsnorm nicht nur ein nicht hinwegzudenkender Teil der Ursachenkette, sondern wesentlich, d. h. annähernd gleichwertige Bedingung neben dem Beitrag des rechtswidrig handelnden Angreifers sei. Zutreffend habe auch das beklagte Land eine Mitverursachung des Klägers nicht angenommen. Denn seinem unmittelbaren Tatbeitrag durch das Schlagen der Ehefrau und die ausgesprochenen Beleidigungen komme kein annähernd gleichwertiges Gewicht neben dem Tatbeitrag, dem Schuss des Täters, zu. Die Mitverursachung könne zwar auch in einer vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Selbstgefährdung des Opfers zu sehen sein. Der Tatbeitrag des Klägers sei aber keine so schwerwiegende vorwerfbare Provokation des Täters, dass darin eine im Hinblick auf das vorliegende Delikt der schweren Körperverletzung annähernd gleichwertige Bedingung gesehen werden könne. Wer einen anderen schwer beleidige oder schlage, müsse nicht damit rechnen, dass er damit sein Leben aufs Spiel setze. Entgegen der Feststellung des beklagten Landes sei die vom Kläger begehrte Opferentschädigung auch nicht wegen Unbilligkeit aus anderen Gründen zu versagen. Danach könne ein die Schwelle der Mitverursachung nicht erreichender Tatbeitrag des Opfers zwar nicht allein, aber in Verbindung mit sonstigen zusätzlichen Gründen zur Unbilligkeit von Versorgungsleistungen führen. Dabei müsse es sich um solche Gründe handeln, die dem in der 1. Altern. des § 2 Abs. 1 OEG genannten Fall der Mitverursachung an Bedeutung annähernd gleichkommen. Ausgeschlossen seien deshalb Entschädigungsansprüche, wenn das Opfer sich, ohne sozial nützlich oder sogar von der Rechtsordnung erwünscht zu handeln, der Gefahr einer Gewalttat bewusst oder leichtfertig ausgesetzt habe oder sich einer von ihm erkannten oder leichtfertig verkannten Gefahr nicht entziehe, obwohl ihm dies zumutbar und möglich wäre. Der Begriff der Leichtfertigkeit in diesem Sinne sei durch einen erhöhten Grad von Fahrlässigkeit gekennzeichnet, der etwa der groben Fahrlässigkeit des bürgerlichen Rechts entspreche, aber im OEG nicht auf Grund objektiver Sorgfaltsmaßstäbe, sondern auf Grund der individuellen persönlichen Fähigkeiten des Opfers zu beurteilen sei, wobei es darauf ankomme, dass das Opfer sich anders hätte verhalten können. Die Kammer könne eine leichtfertige Selbstgefährdung des Klägers, die zur Versagung einer Entschädigung nach dem OEG führe, nicht feststellen. Es bestünden bereits angesichts der Blutalkoholkonzentration von 2,8 ‰ zur Tatzeit erhebliche Zweifel daran, dass der Kläger noch in der Lage gewesen sei, die durch sein Verhalten und die weiteren Umstände gegebene Selbstgefährdung zu erkennen und ggf. entsprechend der Erkenntnis zu handeln. Es seien jedenfalls keinerlei Hinweise dafür erkennbar, dass der Kläger die Gefahr des Niederschießens hätte erkennen oder vermeiden können. Das gesamte Verhalten des von ihm misshandelten und beleidigten Ehepaares weise vielmehr auf ein Vermeidungsverhalten hin. So sei das Ehepaar zunächst vor dem Kläger geflohen. Die Ehefrau des Schädigers habe ihren Ehemann stets aufgefordert, sich aus der Auseinandersetzung herauszuhalten. Dieser habe, ohne den Kläger anzugreifen, versucht, die Polizei zu rufen. Eine Gegenwehr sei für den Kläger somit nicht ersichtlich und erkennbar gewesen. Insbesondere habe er die Gefahr der tatsächlichen Gewalttat nicht erkennen können, da der Schädiger ihm ohne jede Vorwarnung in den Rücken geschossen habe. Es sei ihm nicht möglich gewesen, sich der Gefahr noch zu entziehen. Die Tat habe ihn wie ein "Blitz aus heiterem Himmel" getroffen.

Gegen das ihm am 12. Dezember 2002 zugestellte Urteil wendet sich das beklagte Land mit der am 30. Dezember 2002 eingelegten Berufung, zu deren Begründung es im Wesentlichen vorträgt: Der Kläger sei am 13. Juni 1998 unstreitig Opfer einer Gewalttat im Sinne des § 1 OEG geworden. Das Sozialgericht gehe aber zu Unrecht davon aus, dass ein Versagungsgrund nach § 2 Abs. 1 OEG nicht vorliege. Zwar werde der Auffassung des Sozialgerichts zugestimmt, dass der Tatbeitrag des Klägers keine so schwerwiegende vorwerfbare Provokation des Klägers sei, dass darin eine im Hinblick auf das vorliegende Delikt der schweren Körperverletzung annähernd gleichwertige Bedingung gesehen werden könne. Der Auffassung des Sozialgerichts, dass eine Mitverursachung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. OEG nicht vorliege, werde zugestimmt. Leistungen nach dem OEG seien aber nach § 2 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. auch dann zu versagen, wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchsstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Diese Voraussetzungen seien erfüllt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu § 2 Abs. 1 OEG widerspreche es dem Verbot unzulässiger Rechtsausübung zum Ausgleich der Schädigungsfolgen, staatliche Leistungen zu verlangen, wenn sich jemand bewusst außerhalb der staatlichen Gemeinschaft stelle und sich die damit verbundene Gefahr in Schädigungen durch eine Gewalttat realisiere. Wer sich z. B. als chronisch Alkohol- oder Drogenabhängiger sozialwidrig verhalte, einer spezifischen Gefahr dieses Milieus erliege und dafür von der staatlichen Gemeinschaft Entschädigung verlange, setze sich zu seinem eigenen Verhalten in Widerspruch. Der Kläger sei zur Tatzeit chronisch alkohol- und drogenabhängig gewesen. Er habe auch vor der Gewalttat reichlich Bier und Alkohol getrunken. Seine Blutalkoholkonzentration habe etwa eine Stunde nach der Tat noch 2,76 ‰ betragen. Auch sei Heroin und Kokain konsumiert worden. Es sei bekannt, dass es in diesem Milieu oft zu Streitigkeiten und tätlichen Auseinandersetzungen komme. So habe der Kläger bereits im März 1996 ein Cliquenmitglied durch Messerstiche verletzt. Kurz vor der Gewalttat habe der Kläger dem Schädiger zwei Kopfnüsse versetzt und seine Ehefrau angegriffen. Außerdem habe es zu den Geflogenheiten dieser Gruppe gehört, gelegentlich Schießübungen in Wohnungen abzuhalten. Durch dieses rechtsfeindliche Verhalten, insbesondere wegen der chronischen Alkohol- und Drogenabhängigkeit, habe sich der Kläger außerhalb der staatlichen Gemeinschaft gestellt. Daher seien ihm in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts Leistungen nach dem OEG wegen Unbilligkeit zu versagen.

Das beklagte Land beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 7. November 2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er bezieht sich zur Begründung auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils und trägt ergänzend vor, dass ein nach dem Moralempfinden der Mehrheit der Bevölkerung unsittlicher oder "unmoralischer" Lebenswandel allein eine Entschädigung für eine im Zusammenhang damit erlittene Gewalttat nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht ausschließe. Er habe die Umstände der Selbstgefährdung schon wegen der zur Tatzeit festgestellten Blutalkoholkonzentration von 2,8 ‰ nicht erkennen können.

Die den Kläger betreffenden Verwaltungsakten des beklagten Landes sowie 3 Band Akten der Staatsanwaltschaft zu dem gegen den Schädiger geführten Strafverfahren (Az: ) und die Prozessakte haben dem Senat vorgelegen. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf ihren Inhalt verwiesen.


 

Entscheidungsgründe

Die statthafte (§ 143 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung ist zulässig. Sie ist auch begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Leistungen nach dem OEG wegen des Ereignisses vom 13. Juni 1998. Das beklagte Land hat den Antrag des Klägers mit den angefochtenen Bescheiden zu Recht abgelehnt.

Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) erhält in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) auf Antrag Versorgung, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt.

Nach den Feststellungen des Landgerichts Itzehoe (Urteil vom 11. Mai 1999 - ), denen sich der Senat in vollem Umfang anschließt, hat der Schädiger den Kläger angegriffen, indem er ihn mit der Schrotflinte in den Rücken geschossen hat. Der Senat geht ebenfalls in Übereinstimmung mit der Beurteilung durch das Landgericht davon aus, dass der Angriff rechtswidrig war und dass insbesondere keine Notwehr oder Nothilfe im Sinne des § 32 StGB vorgelegen hat, weil der Schädiger nicht mit Verteidigungswillen gehandelt hat, sondern um den Kläger zu bestrafen. Selbst wenn der Schädiger mit Verteidigungswillen gehandelt hätte, so wäre der ohne Vorwarnung abgegebene Schuss aus unmittelbarer Nähe in den Rücken des Klägers aber jedenfalls zur Abwehr des Angriffs nicht erforderlich gewesen, sodass allenfalls das Vorliegen der Voraussetzungen des § 33 StGB (Überschreitung der Notwehr) in Betracht käme. Ob ein solcher Schuldausschließungsgrund vorliegt, ist im vorliegenden Zusammenhang nicht von Bedeutung, weil es ausschließlich auf die Rechtswidrigkeit des Angriffs ankommt. Von der Rechtswidrigkeit des Angriffs und dem Vorliegen der übrigen Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gehen im übrigen auch die Beteiligten übereinstimmend aus.

Der Senat ist jedoch entgegen der Auffassung des Sozialgerichts zu der Überzeugung gelangt, dass Versagungsgründe i.S.d. § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG vorliegen und dass der Kläger deshalb keinen Anspruch auf Leistungen hat. Nach dieser Vorschrift sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat (1. Alternative) oder wenn es aus sonstigen Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren (2. Alternative).

Bei der Mitverursachung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 1. Alternative OEG handelt es sich um einen Sonderfall der Unbilligkeit. Sie ist in der 1. Alternative abschließend geregelt, wenn nur die unmittelbare Tatbeteiligung des Geschädigten als Leistungsausschlussgrund in Betracht kommt (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteil vom 6. Dezember 1989 - 9 RVg 2/89 - BSGE 66, 115 = SozR 3800 § 2 Nr. 7). Diese Alternative ist stets zuerst zu prüfen (BSG, Urteil vom 18. April 2001 - B 9 VG 3/00 R - BSGE 88, 96 = SozR 3-3800 § 2 Nr. 10, m.w.N.). Zum Bereich der Mitursächlichkeit gehören alle unmittelbaren, nach natürlicher Betrachtungsweise mit dem eigentlichen schädigenden Tatgeschehen insbesondere auch zeitlich eng verbundenen Umstände, während alle nicht unmittelbaren, lediglich erfolgsfördernden Umstände, wie typischerweise die Vorgeschichte der eigentlichen Gewalttat, im Rahmen der Unbilligkeit zu prüfen sind. Ein Leistungsausschluss nach § 2 Abs. 1 Satz 1 1. Alternative OEG kommt nur in Betracht, wenn das Verhalten des Opfers wesentlich mitursächlich im Sinne der im Versorgungs- und Opferentschädigungsrecht geltenden Kausalitätsnorm, d.h. in etwa gleichwertig mit dem Tatbeitrag des Schädigers gewesen ist (BSG, Urteil vom 18. April 2001, a.a.O.). Das ist anzunehmen, wenn sich das Opfer bei seinem Ursachenbeitrag in ähnlich schwerer Weise gegen die Rechtsordnung vergangen hat wie der vorsätzlich handelnde Gewalttäter. Dabei kann für die Bewertung beiderseitiger Tatbeiträge darauf abgestellt werden, welchen Strafrahmen die Vorschriften des Strafgesetzbuches für die begangenen Straftaten vorsehen (vgl. BSG, Urteil vom 15. August 1996 - 9 RVg 6/94 - BSGE 79, 87 = SozR 3-3800 § 2 Nr. 5 sowie BSG, Urteil vom 6. Dezember 1989 - 9 RVg 2/89 - BSGE 66, 115 = SozR 3-3800 § 2 Nr. 7). Auch wenn das Opfer der Gewalttat nicht selbst einen Straftatbestand erfüllt hat, kann ein Leistungsausschluss wegen Mitverursachung in Betracht kommen, wenn sich der Geschädigte etwa durch Provokation entweder grob fahrlässig (leichtfertig) oder gar vorsätzlich (bewusst) der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt und dadurch selbst gefährdet hat (vgl. BSG, Urteil vom 21. Oktober 1998 - B 9 VG 6/97 R - BSGE 83, 62 = SozR 3-3800 § 2 Nr. 9). Zur Beurteilung der groben Fahrlässigkeit ist - ähnlich wie im Strafrecht - ein subjektiver Maßstab anzulegen und zu prüfen, ob das Opfer die Selbstgefährdung erkennen und vermeiden konnte und ob es - unter Berücksichtigung seiner persönlichen Erkenntnisfähigkeit - in besonders schwerem Maße Sorgfaltspflichten verletzt hat. In diesem Zusammenhang ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts darauf abzustellen, ob der Geschädigte wegen seines provokativen Verhaltens mit einer so schwerwiegenden Gewalttat hätte rechnen müssen (vgl. BSG, Urteil vom 15. August 1996, a.a.O.; BSG, Urteil vom 21. Oktober 1998 - B 9 VG 2/97 R - SozR 3-1500 § 128 Nr. 12).

Der Senat geht davon aus, dass die dargestellten Voraussetzungen der Mitverursachung vorliegend nicht erfüllt werden. Zwar hat der Kläger den Schädiger über einen Zeitraum von mehreren Stunden und auch bis unmittelbar vor der Gewalttat ganz erheblich provoziert, indem er ihn und seine Ehefrau ohne erkennbaren Grund misshandelt hat, sich geweigert hat, deren Wohnung zu verlassen, die Herausgabe eines ihm offenkundig nicht (mehr) zustehenden Geldbetrags verlangt hat und schließlich dem Schädiger vorgehalten hat, dass er nicht einmal in der Lage sei, seine Ehefrau zu verteidigen. Der Kläger hat damit den Straftatbestand der Körperverletzung gemäß § 223 StGB erfüllt, der mit einer Freiheitsstrafe von höchstens fünf Jahren oder mit Geldstrafe bedroht ist. Er hat sich damit aber nicht in ähnlich schwerer Weise gegen die Rechtsordnung vergangen wie der Täter, der den mit einer Freiheitsstrafe von ein bis zehn Jahren bedrohten Straftatbestand der schweren Körperverletzung (§ 226 StGB) erfüllt hat.

In Betracht käme daher nur die Mitverursachung in Gestalt einer zumindest leichtfertigen Selbstgefährdung. Der Senat geht anders als das Sozialgericht nicht davon aus, dass der Kläger wegen des zurückweichenden und auf Konfliktvermeidung ausgerichteten Verhaltens des Schädigers überhaupt nicht mit dessen Gegenwehr rechnen konnte. Schließlich hat er den Schädiger durch die Verfolgung, Misshandlung und Beleidigung über einen Zeitraum von mehreren Stunden und auch dadurch, dass er das Herbeirufen der Polizei durch den Schädiger verhindert hat, in eine fast ausweglos erscheinende Situation getrieben. Zwar ist davon auszugehen, dass die Fähigkeit des Klägers, dies zu erkennen und entsprechend dieser Erkenntnis zu handeln, aufgrund der Blutalkoholkonzentration (BAK) von 2,8 ‰ zur Tatzeit eingeschränkt war; sie war jedoch nicht aufgehoben. Mit dieser Beurteilung greift der Senat auf die im Strafrecht zur Schuldfähigkeit entwickelten Maßstäbe zurück. Danach kann aus einer Blutalkoholkonzentration von 2,8 ‰ nicht auf das Vorliegen von Schuldunfähigkeit geschlossen werden. Nach der Rechtsprechung der Strafgerichte gibt es zwar keine festen Grenzwerte. Zu einer Prüfung, ob die Steuerungsfähigkeit aufgehoben war (§ 20 Strafgesetzbuch - StGB) veranlasst aber jedenfalls erst ein BAK-Wert ab 3 ‰. Insbesondere bei trinkgewohnten Personen, wie dem Kläger, gilt selbst bei einer BAK von über 3 ‰ eine Vermutung für die Schuldunfähigkeit nicht (vgl. Tröndle/Fischer, StGB, 52. Aufl. 2004, § 20 Rz. 20). Danach war die Fähigkeit des Klägers, die Gefahr einer Gegenwehr des Schädiger zu erkennen, durch die BAK von 2,8 ‰ nicht aufgehoben, sondern erheblich vermindert.

Allerdings setzt das Vorliegen einer leichtfertigen Selbstgefährdung nach der Rechtsprechung des BSG nicht nur voraus, dass der Geschädigte erkennen konnte, dass er sich überhaupt in Gefahr begibt, sondern darüber hinaus, dass er mit einer so schweren Gewalttat rechnen musste (BSG, Urteil vom 1. September 1999 - B 9 VG 3/97 R - USK 99120; BSG, Urteile vom 21. Oktober 1998 - B 9 VG 2/97 R und B 9 VG 6/97 R -, a.a.O.). Der Senat geht mit dem Sozialgericht davon aus, dass diese Voraussetzung hier nicht erfüllt ist. Allerdings war dem Kläger bekannt, dass der Schädiger im Besitz der Schrotflinte war. Schließlich hatte er ihm diese selbst zur Verwahrung übergeben und auch gemeinsam mit ihm in Wohnungen Schießübungen durchgeführt. Aus den Bemerkungen des Klägers vor dem ersten Aufsuchen der Wohnung, der unterhalb des Balkons stehend geäußert hatte, dass der Schädiger über eine Schrotflinte verfüge, mit der er "alle abschießen werde", folgert der Senat, dass sich der Kläger der Gefahr, die von der Waffe in der Hand des Schädigers ausging, im Grundsatz bewusst war. Dies beweist jedoch nicht, dass der Kläger auch noch bei dem zweiten Aufsuchen der Wohnung des Schädigers und insbesondere konkret in der Situation, in der er die Ehefrau des Schädigers unmittelbar vor dessen Angriff erneut misshandelte, mit einer so schwerwiegenden Gewalttat rechnen konnte. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Kläger in der Zwischenzeit weiter Alkohol getrunken hatte. Unter diesen Umständen kann auch dahingestellt bleiben, ob die Angabe der Mutter des Klägers aus den polizeilichen Vernehmungen vom 14. Juni 1998 und vom 15. Juni 1998 zutrifft, nach der sich der Kläger, beim Klingeln an der Wohnungstür seitlich neben die Tür gestellt hat, "falls der K durch die Tür schießen sollte" (Bd. I Bl. 14 und 35 der Ermittlungsakten). Denn auch diese Angaben beziehen sich auf das erste Aufsuchen der Wohnung des Schädigers. Der Kläger konnte sich dann in der mündlichen Verhandlung an Einzelheiten nicht mehr erinnern.

Nach allem ist nicht zu belegen, dass der Kläger die Selbstgefährdung erkennen und vermeiden konnte und er - unter Berücksichtigung seiner persönlichen Erkenntnisfähigkeit zur Zeit der Tat - in besonders schwerem Maße Sorgfaltspflichten verletzt hat.

Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. OEG sind Leistungen jedoch auch zu versagen, wenn es unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. "Unbilligkeit" ist als unbestimmter Rechtsbegriff so zu konturieren, dass die darauf beruhende Gegennorm den Leistungsausschluss gegenüber dem Rechtsanspruch aus § 1 OEG rechtfertigt (BSG, Urteil vom 7. November 1979 - 9 RVg 2/78 - BSGE 49, 104, 107 = SozR 3800 § 2 Nr. 1; BSG, Urteil vom 21. Oktober 1998 - B 9 VG 6/97 R - BSGE 83, 62, 65 = SozR 3-3800 § 2 Nr. 9). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts führen nur solche Gründe zur Unbilligkeit, die dem in der 1. Alternative des § 2 Abs. 1 OEG genannten Fall der Mitverursachung an Bedeutung annähernd gleichkommen (BSG, Urteil vom 7. November 2001 - B 9 VG 2/01 R - BSGE 89, 75 = SozR 3-3800 § 2 Nr. 11, m.w.N.). Der Maßstab hierfür ergibt sich aus dem gesetzlichen Zweck der Gewaltopferentschädigung, aus verfassungsrechtlichen Wertungen, aus Prinzipien der Gesamtrechtsordnung und aus viktimologischen Erkenntnissen. Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat dazu vier Fallgruppen gebildet (vgl. BSG, Urteil vom 21. Oktober 1998, a.a.O.; BSG, Urteil vom 7. November 2001, a.a.O.): 1.Eine im Vorfeld der Tat liegende rechtsfeindliche Betätigung, mit der sich das spätere Opfer außerhalb der staatlichen Rechtsgemeinschaft stellt, 2.die sozialwidrige, mit speziellen Gefahren verbundene Zugehörigkeit zum Kreis der Alkohol- oder Drogenkonsumenten, wenn die Tat aus diesem Milieu entstanden ist, 3.das bewusste oder leichtfertige Eingehen einer Gefahr, der sich das Opfer ohne weiteres hätte entziehen können, es sei denn, für dieses Verhalten läge ein rechtfertigender Grund vor, 4.eine durch die Versorgung entstehende Vergünstigung des Täters.

Im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen der zweiten Fallgruppe gegeben. Der Kläger gehörte zu einer Gruppe von jüngeren Arbeitslosen, die oft tage- und nächtelang Alkohol und Drogen konsumierten; aus diesem Milieu heraus ist die Gewalttat gegen den Kläger entstanden. Zu den Gepflogenheiten der Gruppe gehörte das Abhalten von Schießübungen in Wohnungen. Gerade von Seiten des Klägers gingen auch Gewalttätigkeiten aus. Er war in der Gruppe bekannt dafür, dass er in stark alkoholisiertem Zustand bzw. unter starkem Drogeneinfluss gelegentlich "ausrastete". Diese cliquenimmanente Gefahrenlage aus übermäßigem Alkohol- und Drogenkonsum, Waffenbesitz und Waffengebrauch sowie Gewalttätigkeiten hat sich konkret in dem Tatgeschehen am 13. Juni 1998 im Verhältnis zwischen dem Schädiger und dem Kläger als Opfer verwirklicht. Zum Zeitpunkt der Tat stand der Kläger unter starkem Alkoholeinfluss (Blutprobe bei dem Kläger am 13. Juni 1998 um 20.30 Uhr, Blutalkoholkonzentration 2,76 ‰). Der Schädiger hat vor der Gewalttat Alkohol und Drogen konsumiert. Im engen zeitlichen Zusammenhang mit dem Tatgeschehen hatte der Kläger den Schädiger im Rahmen einer Auseinandersetzung wütend eine Haustreppe hinuntergestoßen und auch auf den Schädiger eingeschlagen, der dabei insgesamt Verletzungen im Gesicht erlitten hatte. Bei der weiteren Auseinandersetzung zwischen dem Kläger und dem Schädiger in dessen Wohnung setzte sich die Aggressivität zwischen dem Kläger und dem Schädiger mit weiteren Provokationen des Klägers gegen den Schädiger und dessen Ehefrau fort, und der Kläger wurde auch gewalttätig gegenüber der Ehefrau des Schädigers. In Fortführung der andauernden Auseinandersetzung zwischen dem Kläger und dem Schädiger hat der Schädiger dann die dem Kläger gehörende, im Schlafzimmer des Schädigers auf Veranlassung des Klägers aufbewahrte Schrotflinte in Reaktion auf das Verhalten des Klägers eingesetzt und dem Kläger damit in den Rücken geschossen. Hintergrund des Streits, der schließlich in die Gewalttat mündete, war der Verkauf eines halben Gramms Kokain durch den Kläger an den Schädiger zum Preis von 60,00 DM. Außerdem hat der Kläger dem Schädiger selbst die Waffe, mit der er schließlich in den Rücken geschossen wurde, überlassen. Dass Streitigkeiten um Weitergabe und Verkauf von Drogen, die eskalieren können, eine für das Milieu der Alkohol- und Drogenabhängigen typische Gefährdung darstellen, ist allgemein bekannt (zu Auseinandersetzungen im Drogenmilieu vgl. auch BSG, Urteil vom 24. März 1993 - 9/9a RVg 3/91 - BSGE 72, 136 = SozR 3-3800 § 2 Nr. 2).

Vor dem Hintergrund der hohen Anforderungen, die das BSG in ständiger Rechtsprechung an das Vorliegen einer Mitverursachung stellt und unter Berücksichtigung der Voraussetzung, dass nur solche Gründe zur Unbilligkeit nach der 2. Alternative des § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG führen können, die dem in der 1. Alt. genannten Fall der Mitverursachung an Bedeutung annähernd gleichkommen, stellt sich allerdings die Frage, ob bereits jede "sozialwidrige, mit speziellen Gefahren verbundene Zugehörigkeit zum Kreis der Alkohol- oder Drogenkonsumenten" zur Versagung von Leistungen führen kann, wenn die Tat aus diesem Milieu entstanden ist. Entscheidungen des BSG, in denen es auf das Vorliegen dieser Fallgruppe angekommen wäre, liegen soweit ersichtlich nicht vor, sodass zu einer Konkretisierung der recht weit gefassten Voraussetzungen bisher kein Anlass bestand.

Auch wenn danach die Erfüllung der Voraussetzungen nach der o.g. zweiten Fallgruppe nicht ausreichen sollte, um Unbilligkeit zu begründen, so liegt Unbilligkeit im vorliegenden Fall jedenfalls deshalb vor, weil neben der Zugehörigkeit des Klägers zum Kreis der Alkohol- oder Drogenkonsumenten und dem Entstehen der Tat aus diesem Milieu weitere mit dem eigentlichen schädigenden Tatgeschehen zeitlich eng verbundene Umstände in Gestalt des oben dargestellten provokativen und gewalttätigen Verhaltens gegenüber dem Schädiger und seiner Ehefrau vorliegen, die zwar allein nicht ausreichen, um eine Mitverursachung zu begründen, die aber nach Auffassung des Senats bei der Prüfung der Voraussetzungen der Unbilligkeit ergänzend herangezogen werden können. Die Berücksichtigung des Beitrags, den der Kläger zum eigentlichen Tatgeschehen geleistet hat, steht dabei nicht im Widerspruch zu der Rechtsprechung des BSG, nach der ein Tatbeitrag, der die Schwelle der Mitverursachung nicht erreicht, nicht unter dem Gesichtspunkt der Unbilligkeit zur Versagung der Leistungen nach dem OEG führen kann (vgl. BSG, Urteil vom 6. Dezember 1989 - 9 RVg 2/89 - BSGE 66, 115 = SozR 3800 § 2 Nr. 7). Denn der vorliegende Fall zeichnet sich dadurch aus, dass nicht nur die unmittelbare Tatbeteiligung des Geschädigten als Leistungsausschließungsgrund in Betracht kommt. Es geht also nicht darum, dass die Mitwirkungshandlung allein die Unbilligkeit begründen soll, sondern nur gemeinsam mit sonstigen zusätzlichen Gründen. Eine solche ergänzende Berücksichtigung von unmittelbaren Tatbeiträgen bei Vorliegen weiterer Gründe, die zur Unbilligkeit führen können, ist in der Rechtsprechung des BSG soweit ersichtlich nicht ausgeschlossen worden (vgl. BSG, Urteil vom 15. August 1996 - 9 RVg 6/94 - BSGE 79, 87 = SozR 3-3800 § 2 Nr. 5, JURIS Rz. 20, m.w.N.; BSG, Urteil vom 6. Dezember 1989, a.a.O., JURIS Rz. 13). Die Berücksichtigung erscheint sogar naheliegend, weil es sich bei der Mitverursachung nach ständiger Rechtsprechung um einen besonderen Fall der Unbilligkeit handelt. Wenn die Voraussetzungen dieses besonderen Falles nicht vorliegen, so spricht dies nach Auffassung des Senats dafür, die mit dem eigentlichen schädigenden Tatgeschehen zeitlich eng verbundene Mitwirkungshandlungen in die Prüfung des umfassenderen Tatbestands der Unbilligkeit ergänzend einzubeziehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 Satz 1 SGG.

Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gem. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, weil zu erwarten ist, dass eine Entscheidung des BSG zur Klärung der Frage beitragen kann, unter welchen Voraussetzungen die sozialwidrige, mit speziellen Gefahren verbundene Zugehörigkeit zum Kreis der Alkohol- oder Drogenkonsumenten die Unbilligkeit der Entschädigung i.S.d. § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG begründen kann und ob dabei auch unmittelbare Tatbeiträge in die Bewertung einfließen können.