Bayerisches Landessozialgericht - vom 15.03.2005 - Az.: L 18 SB 145/04  - rechtskräftig


Tatbestand:

Streitig ist, ob dem Kläger die Merkzeichen G und aG zustehen.

Der 1928 geborene Kläger, bei dem zuletzt ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 sowie das Merkzeichen RF anerkannt waren (Bescheide vom 29.12.1980 und 20.03.1984), beantragte am 08.03.2000 die Zuerkennung des Merkzeichens aG und mit Schreiben vom 30.08.2000 auch die Merkzeichen B und H. Nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme nach Aktenlage der Versorgungsärztin S. von 24.07.2000 erhöhte der Beklagte mit Bescheid vom 02.08.2000 den GdB auf 100 und erkannte das Merkzeichen G zu. Die Gewährung der Merkzeichen aG, B, H, Bl und 1. Klasse lehnte er ab. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch wegen Nichtgewährung des Merkzeichens aG ein. Der Beklagte ließ den Kläger durch den Internisten und Sozialmediziner Dr.G. untersuchen (Gutachten vom 06.02.2001) und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12.09.2001 zurück. In den Gründen des Widerspruchsbescheides lehnte der Beklagte auch die Gewährung der Merkzeichen G, aG, B und H ab. Mit Rücknahmebescheid vom 26.07.2001 hatte der Beklagte das Merkzeichen G nach Anhörung des Klägers und Einholung einer Stellungnahme der Versorgungsärztin Dr.N. vom 22.06.2001 bereits entzogen.

Im anschließenden Klageverfahren hat der Kläger zunächst die Zuerkennung des Merkzeichens aG begehrt. Nach Beiziehung von Befundberichten der behandelnden Ärzte des Klägers hat das Sozialgericht mit Beweisanordnungen vom 30.07.2002 und 06.11.2003 den Arzt für öffentliches Gesundheitswesen Dr.H. zum gerichtsärztlichen Sachverständigen ernannt und mit der Erstattung eines Gutachtens nach ambulanter Untersuchung des Klägers beauftragt. Ablehnungsanträge gegen den Vorsitzenden der 15. Kammer des Sozialgerichts Nürnberg, Richter am Sozialgericht K. , waren erfolglos (Beschlüsse des Bayer. Landessozialgerichts (BayLSG) vom 18.11.2002 und 21.01.2003 sowie 07.06.2004 und 19.07.2004). Ebenfalls ohne Erfolg war die Ablehnung des Sachverständigen Dr.H. (Beschlüsse des BayLSG vom 01.07.2003 und des BSG vom 18.08.2003). Der Kläger hat Dr.H. weiterhin für einen unqualifizierten Arzt gehalten und eine Begutachtung durch ihn abgelehnt (Schreiben vom 18.11.2003). Das Sozialgericht hat Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 12.10.2004 bestimmt und das persönliche Erscheinen des Klägers angeordnet. Der Kläger hat mit Schreiben vom 30.09.2004 mitgeteilt, dass er in der mündlichen Verhandlung den Antrag auf Zuerkennung der Merkzeichen aG, B und Bl stellen werde. Der Kläger ist zum Termin unentschuldigt nicht erschienen. Daraufhin hat das Sozialgericht die Anordnung des persönlichen Erscheinens aufgehoben und zur Begründung ausgeführt, die Anordnung des persönlichen Erscheinens sei nur erfolgt, um den Kläger nochmals auf seine Mitwirkungspflicht hinzuweisen sowie auf die Konsequenzen bei einer Verletzung seiner Mitwirkungspflicht. Anschließend hat es die Klage mit Urteil vom 12.10.2004 abgewiesen (Ziffer I des Tenors) und den Kläger zur Zahlung von 150,00 EUR Gerichtskosten an die Staatskasse verurteilt (Ziffer III des Tenors). In den Entscheidungsgründen hat es auf die Bescheide des Beklagten Bezug genommen und ausgeführt, die versorgungsärztlichen Stellungnahmen legten in überzeugender und nachvollziehbarer Weise dar, dass die Merkzeichen G und aG dem Kläger nicht zustünden. Eine weitere Sachaufklärung sei daher nicht geboten und aufgrund der Verletzung der Mitwirkungspflichten des Klägers auch nicht möglich. Die Auferlegung von Gerichtskosten hat das Sozialgericht nicht begründet, sondern lediglich ausgeführt, die Kostenentscheidung beruhe auf § 192 Abs 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) iVm §§ 192 Abs 1 Satz 3, 184 Abs 2 SGG.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und u.a. (weiterhin) den Richter am Sozialgericht K. für den nicht gesetzlichen Richter gehalten. Es fehle auch eine gesetzliche Grundlage, eine Gebühr dafür zu erheben, wenn man während des Ablehnungsverfahrens vom Termin fern bleibe. Der Kläger hat ärztliche Unterlagen vorgelegt, wonach er wegen eines Resttumors in einer Lymphe nunmehr eine Chemotherapie machen müsse. Dies führe zu einer Schwäche in den Beinen, Übelkeit und Durchfall. Eine Bewegungsmöglichkeit außerhalb des Hauses sei nicht mehr möglich. Der Beklagte hat zur Feststellung des aktuellen Gesundheitszustandes eine körperliche Untersuchung des Klägers für notwendig gehalten. Der Berichterstatter hat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass der Senat beabsichtige, das Urteil des Sozialgerichts wegen Verfahrensmängel aufzuheben und an das Sozialgericht Nürnberg zurückzuverweisen.

Die Beteiligten haben sich daraufhin mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren und durch den Berichterstatter einverstanden erklärt.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Schwerbehindertenakte des Beklagten und die Gerichtsakten der ersten und zweiten Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Entscheidung ergeht im Einverständnis mit den Beteiligten im schriftlichen Verfahren (§ 124 Abs 2 SGG). Dass die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter erklärt haben, hindert eine Entscheidung durch den gesamten Senat nicht (Meyer-Ladewig, SGG Kommentar, 7. Auflage, § 155 RdNr. 13).

Die Berufung des Klägers ist zulässig und iS der Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts und der Zurückverweisung begründet (§ 159 Abs 1 Nr. 2 SGG).

Nach § 159 Abs 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht auf die Berufung eines Beteiligten hin die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Das sozialgerichtliche Urteil leidet an mehreren wesentlichen Verfahrensmängeln. So hat das Sozialgericht seine Pflicht zur Amtsermittlung verletzt, den Anspruch des Klägers auf ein faires Verfahren nicht beachtet sowie gegen die gerichtliche Fürsorgepflicht verstoßen. Es hat des Weiteren kein rechtliches Gehör gewährt und sein Urteil nicht ausreichend begründet.

Nach § 103 Satz 1 1. Halbsatz SGG hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Es müssen alle entscheidungserheblichen Tatsachen ermittelt werden (Meyer-Ladewig a.a.O. § 103 RdNr. 4 a). Dies hat das Sozialgericht verfahrensfehlerhaft unterlassen. Zwar hat es der Kläger abgelehnt, sich von dem Sachverständigen Dr.H. untersuchen zu lassen. Das Sozialgericht hätte sich jedoch gedrängt fühlen müssen, den Kläger von Dr.H. nach Aktenlage begutachten zu lassen. Der gerichtsärztliche Sachverständige hätte im Rahmen einer solchen Begutachtung die vom Sozialgericht eingeholten Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers und die versorgungsärztlichen Stellungnahmen der Versorgungsärztinnen S. und Dr.N. vom 24.07.2000 und 22.06.2001 sowie das Gutachten des Dr.G. vom 06.02.2001 zu würdigen gehabt. Zu einer solchen Vorgehensweise des Sozialgerichts hätte um so mehr Anlass bestanden, als das Sozialgericht durch seine Beweisanordnungen vom 30.07.2002 und 06.11.2003 zu erkennen gegeben hat, dass es eine Überprüfung der Bescheide des Beklagten aus medizinischer Sicht für erforderlich hält. Das Gericht muss von allen Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen, Gebrauch machen (Meyer-Ladewig a.a.O. § 103 RdNr. 8 mwN). Es darf von einer Beweisaufnahme nur absehen, wenn es auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt oder wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder unerreichbar ist. Diese Voraussetzungen lagen hier nicht vor. Das Sozialgericht hätte der Wahrheitsfindung näher kommen können, wenn es statt der vom Kläger vereitelten persönlichen Untersuchung eine Begutachtung nach Aktenlage angeordnet hätte.

Das prozessuale Verhalten des Sozialgerichts verstößt auch in mehrfacher Hinsicht gegen den Grundsatz der fairen Prozessführung. Nach diesem aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art 20 Abs 3 Grundgesetz (GG) abzuleitenden "allgemeinen Prozessgrundrecht" darf sich das Gericht nicht widersprüchlich verhalten (BVerfGE 57, 250, 275; 69, 381, 387; BSG, Beschluss vom 09.04.2003 Az: B 5 RJ 140/02 B juris Nr. KSRE050131527 und BSG SozR 3-1500 § 67 Nr. 21; Meyer-Ladewig, a.a.O., vor § 16 c RdNr. 1b). Das Sozialgericht hat zunächst eine medizinische Beweiserhebung für erforderlich gehalten. Nachdem sich der Kläger einer persönlichen Begutachtung entzogen hat, hat das Sozialgericht in seinem verkürzten Urteil gemäß § 136 Abs 3 SGG zur Begründung auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide Bezug genommen und ausgeführt, dass die versorgungsärztlichen Stellungnahmen in überzeugender und nachvollziehbarer Weise darlegten, dass die Merkzeichen G und aG nicht zustünden. Eine weitere Sachaufklärung sei daher nicht geboten. Diese Argumentation des Sozialgerichts ist widersprüchlich. Träfen die Ausführungen zu, hätte es der Beweisbeschlüsse des Gerichts nicht bedurft. Das prozessuale Verhalten des Sozialgerichts ist ferner insoweit widersprüchlich, als es zum einen das persönliche Erscheinen des Klägers (§ 111 Abs 1 SGG) angeordnet hat, zum anderen aber in der mündlichen Verhandlung diese Anordnung mit der Begründung aufgehoben hat, diese sei nur erfolgt, um den Kläger nochmals auf seine Mitwirkungspflicht sowie auf die Konsequenzen bei einer Verletzung seiner Mitwirkungspflichten hinzuweisen. Wenn das Gericht die Anordnung des persönlichen Erscheinens aus Gründen der Fürsorgepflicht des Gerichts (vgl Meyer-Ladewig a.a.O.) für notwendig erachtet hat, so hat es durch die Aufhebung der Anordnung des persönlichen Erscheinens und seiner anschließenden Entscheidung durch Urteil sich widersprüchlich verhalten und gegen die von ihm selbst postulierte Pflicht zur Fürsorge verstoßen.

Das Sozialgericht hat des Weiteren mit der Auferlegung von Missbrauchskosten gegen den nicht erschienenen Kläger den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt. Der Kläger hätte in der mündlichen Verhandlung auf die missbräuchliche Rechtsverfolgung und die Möglichkeit der Kostenauferlegung hingewiesen werden müssen (Meyer-Ladewig, § 192 RdNr. 10).

Das Sozialgericht hat des Weiteren die Kostenentscheidung nicht begründet. Ist eine Entscheidung nicht mit Gründen versehen, liegt ein wesentlicher Verfahrensfehler iS eines absoluten Revisionsgrundes vor (§ 202 SGG iVm § 547 Nr. 6 Zivilprozessordnung, ZPO (Meyer-Ladewig a.a.O. § 136 RdNr. 7 e). Die bloße Angabe von Rechtsgrundlagen genügt der Pflicht zur Begründung der Entscheidung nicht. Ein Verfahrensfehler in diesem Sinne liegt nicht nur dann vor, wenn überhaupt keine Gründe gegeben werden, sondern auch dann, wenn die Begründung nicht erkennen lässt, welche Überlegungen für die Entscheidung maßgeblich waren (Meyer-Ladewig a.a.O.). Das Urteil hätte die Erwägungen mitteilen müssen, auf denen die Kostenentscheidung beruht. Die Angabe des § 192 Abs 1 Satz 1 Nr. 1 SGG, der Verschuldenskosten für den Fall der Vertagung einer mündlichen Verhandlung vorsieht, ist zudem schon deshalb nicht nachvollziehbar, da das Sozialgericht durch Urteil entschieden hat.

Wegen der aufgezeigten zahlreichen wesentlichen Verfahrensmängel, auf denen die Entscheidung des Sozialgerichts beruht, ist das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Die Verfahrensmängel stellen sich als Verstöße gegen das Gerichtsverfahren regelnde Vorschriften dar. Sie sind auch wesentlich, da das Urteil auf der Verletzung dieser Verfahrensvorschriften beruhen kann. Es ist nämlich nicht auszuschließen, dass das Sozialgericht bei Vermeidung der Verfahrensfehler anders entschieden hätte. Soweit im Urteil des Sozialgerichts Entscheidungsgründe fehlen, beruht es auf diesem Verfahrensmangel (Meyer-Ladewig § 159 RdNr. 3 a).

Es liegt im Ermessen des Senats, ob er in der Sache selbst entscheidet oder zurückverweisen will. Die Zurückverweisung soll die Ausnahme sein (a.a.O. § 159 Anm. 5). Eine Zurückverweisung allein wegen der Auferlegung von Mutwillenskosten bzw. Missbrauchskosten käme nicht in Betracht, da die Sache insoweit entscheidungsreif ist (vgl a.a.O. § 159 RdNr. 5 a). In Abwägung zwischen den Interessen der Beteiligten an einer Sachentscheidung sowie dem Grundsatz der Prozessökonomie und dem Verlust einer Instanz hält der Senat aber wegen der noch notwendigen Beweisaufnahme eine Zurückverweisung für geboten.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht vorbehalten.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs 2 Nrn. 1 und 2 SGG).