Bay. LSG - Beschluss vom 17.01.2005 - Az.: L 18 B 278/04 SB
Weist ein Kläger in einer anhängigen Schwerbehindertenstreitsache
eine nach Einlegung des Rechtsmittels eingetretene
Verschlimmerung seines
Gesundheitszustandes nach und ist der genaue Zeitpunkt der
Verschlimmerung wegen der daraufhin erfolgten vergleichsweisen
Regelung in der Hauptsache noch offen, ist eine teilweise
Kostenerstattung durch den
Verwaltungsträger auch dann sachgerecht, wenn dieser der Veränderung
der medizinischen Sachlage unverzüglich nach Kenntnis im Wege eines
Vergleichsangebots Rechnung getragen hat.
I.
Zwischen den Beteiligten ist noch die Erstattung außergerichtlicher Kosten streitig.
Der Beklagte stellte nach Aktenlage mit Bescheid vom 12.03.2002 beim Kläger als Behinderungen mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 40 fest: 1. Depressive Verstimmungen, Agitiertheit, Schlafstörungen, Somatisationen (Einzel-GdB 30) 2. Belastungsminderung von Knie- und Hüftgelenken (Einzel-GdB 20) 3. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Wurzelreizungen, Schulterarmsyndrom, degenerative Wirbelsäulenveränderungen (Einzel-GdB 20).
Im Widerspruchsverfahren berücksichtigte der Beklagte nach Aktenlage als weitere Gesundheitsstörung 4. Bronchitis, restriktive Ventilationsstörung, allergische Diathese. Den GdB bewertete er weiterhin mit 40.
Im anschließenden Klageverfahren hat der Kläger eine Reihe ärztlicher Befundberichte vorgelegt und weitere Behinderungen, wie Gonarthrose rechts, Diabetes mellitus Typ II seit 09/03, arterielle Hypertonie, Hyperurikämie und Hypercholesterinämie geltend gemacht. Der Beklagte hat sich mit Vergleichsangebot vom 12.01.2004 wegen nunmehr bestehender dauernder Insulinpflichtigkeit des Klägers bereit erklärt, für die Gesundheitsstörungen des Klägers ab 01.09.2003 einen GdB von 50 festzustellen. Eine Kostenerstattung hat er unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Bayer. Landessozialgerichts (BayLSG) vom 12.04.1999 (Az: L 20 B 142/98 RJ) abgelehnt, weil sowohl der angefochtene Bescheid als auch der Widerspruchsbescheid zum Zeitpunkt des Erlasses rechtmäßig gewesen seien. Der Verschlimmerungsfall sei erst während des Klageverfahrens eingetreten, so dass im Verwaltungsverfahren eine andere Entscheidung nicht hätte getroffen werden können. Ein entsprechendes Vergleichsangebot sei unverzüglich abgegeben worden. Die Insulinpflichtigkeit des Klägers sei zwar schon mit Schriftsatz vom 10.10.2003 mitgeteilt worden, allerdings sei aus den beigefügten ärztlichen Unterlagen hervorgegangen, dass die Insulinpflicht möglicherweise nur vorübergehend bestanden habe (Attest vom 29.09.2003). Ob der Diabetes mellitus bereits früher vorgelegen habe und ab wann dies der Fall gewesen sei, könne nicht festgestellt werden. Der Grundsatz der objektiven Beweislast gelte auch hinsichtlich der Kosten.
Der Kläger hat das Vergleichsangebot des Beklagten in der Hauptsache angenommen und den Rechtsstreit für erledigt erklärt. Hinsichtlich der Kosten haben die Beteiligten eine gerichtliche Entscheidung beantragt.
Das Sozialgericht (SG) hat die Erstattung außergerichtlicher Kosten mit Beschluss vom 10.05.2004 mit der Begründung abgelehnt, der Diabetes mellitus sei beim Kläger erst Ende September 2003 festgestellt worden. Erkenntnisse, ob die Erkrankung bereits früher begonnen habe, seien nicht zu gewinnen. Der Beklagte habe der Veränderung unverzüglich Rechnung getragen.
Gegen diesen Beschluss hat der Kläger Beschwerde eingelegt und sich zur Stützung seines Anspruches auf die Kostenrechtsprechung des erkennenden Senats berufen.
Das SG hat der Beschwerde des Klägers nicht abgeholfen.
II.
Die form- und fristgerecht (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz ) eingelegte Beschwerde ist zulässig und begründet. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des sozialgerichtlichen Verfahrens zur Hälfte zu erstatten.
Wird der Rechtsstreit auf andere Weise als durch Urteil beendet, ist nach § 193 Abs 1 HS 2 SGG auf Antrag durch Beschluss über die Kosten zu entscheiden. Das Gericht trifft seine Entscheidung nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des mutmaßlichen Verfahrensergebnisses sowie der Gründe für seine Einleitung und Erledigung. Der vermutliche Ausgang des Verfahrens ist anhand des bisherigen Sach- und Streitstandes summarisch festzustellen (BSG SozR Nrn. 3, 4 und 7 zu § 193 SGG).
Der medizinische Sachverhalt war zum Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses noch nicht hinreichend aufgeklärt. Dem Kläger darf aber kostenrechtlich kein Nachteil entstehen, wenn er bei (noch) nicht hinreichend geklärtem medizinischen Sachverhalt den Rechtstreit im Wege des Vergleichs beendet (Beschluss des erkennenden Senats vom 16.09.2003 Az: L 18 B 265/03 SB).
Die Gründe für die Einleitung und Erledigung des Rechtsstreits sprechen dafür, den Beklagten mit der hälftigen Kostentragung zu belasten. Die Auffassung des SG, die ursprüngliche Entscheidung der Beklagten sei wegen der Ende September 2003 eingetretenen Verschlimmerung des Gesundheitszustandes zutreffend gewesen, ist im Hinblick darauf, dass der Kläger weder im Verwaltungsverfahren noch im Klageverfahren persönlich begutachtet worden ist, für den Senat nicht nachvollziehbar. Das SG hat seine Schlussfolgerung ohne Zuziehung eines kompetenten ärztlichen Sachverständigen getroffen und ohne selbst über die erforderlichen Fachkenntnisse zu verfügen. Die Auffassung des SG kann daher nicht zur Begründung für die getroffene Kostenentscheidung herangezogen werden. Insbesondere hat das SG nicht gewürdigt, dass der Kläger neben dem Diabetes mellitus an einer Reihe weiterer bislang nicht berücksichtigter Gesundheitsstörungen gelitten hat. Ermittlungen, ob und seit wann weitere Behinderungen beim Kläger bestanden haben, hat das SG nicht angestellt. Die Erfolgsaussicht der Klage war daher zur Zeit des Vergleichsabschlusses wegen der zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfolgten bzw. unzureichenden Sachaufklärung völlig offen. Weist ein Kläger in einer anhängigen Schwerbehindertenstreitsache eine nach Einlegung des Rechtsmittels eingetretene Verschlimmerung seines Gesundheitszustandes in einem Teilaspekt nach und ist zu diesem Zeitpunkt die Erfolgsaussicht des Rechtsmittels wegen der bis dahin unzureichenden Sachaufklärung des Gerichts aus anderen Gründen noch offen, kann eine teilweise Kostenerstattung durch den Verwaltungsträger auch dann sachgerecht sein, wenn dieser einer festgestellten Veränderung der (medizinischen) Sachlage unverzüglich nach Kenntnis im Wege eines Vergleichsangebots Rechnung trägt (vgl. BayLSG, Beschluss vom 11.07.2000, Az: L 18 B 139/00 SB, juris Nr. KSRE010160509 = SGb 2000, 553 ).
Abgesehen davon, ist es für die Kostenentscheidung des SG grundsätzlich nicht maßgebend, was geschehen wäre, hätte der Kläger kein gerichtliches Verfahren anhängig gemacht. Bei der Kostenerstattung dürfen nur Umstände berücksichtigt werden, die das abgeschlossene gerichtliche Verfahren selbst betreffen. Ist in diesem Verfahren ein Sachverhalt bekannt geworden, durch den die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für den vom Kläger erhobenen Anspruch von einem späteren Zeitpunkt als dem ursprünglich angenommenen erfüllt werden, und hat der Kläger insoweit in der Hauptsache Erfolg gehabt, beruht dieser Teilerfolg letztlich auf dem von ihm eingeleiteten gerichtlichen Verfahren. Dann kann aber nicht die Rede davon sein, der Kläger habe für eine unbegründete Klage Anlass gegeben (ebenso LSG Niedersachsen, Breithaupt 1984 S 634). Die Belastung des Klägers mit den vollen außergerichtlichen Kosten würde sich als unzulässige Sanktion für ein zulässiges prozessuales Verhalten darstellen (BayLSG, Breithaupt 1986 S 365; a.a.O. 1998 S 455; a.a.O. 1998 S 948; BayLSG Beschluss vom 11.07.2000 SGb 2000, 553 ). Dass der Anspruch des Klägers erst zu einem späteren Zeitpunkt gegeben war, führt grundsätzlich nicht zu der Schlussfolgerung, die Klage sei ohne Anlass erhoben worden. Zwischen den Beteiligten war nämlich die Höhe des GdB streitig, also eine Feststellung mit Dauerwirkung. Die ablehnende Verwaltungsentscheidung des Beklagten betraf somit u.a. auch einen in der Zukunft liegenden Zeitraum, auf den sich das Klagebegehren erstreckte. Bei derartigen Verpflichtungs- oder Feststellungsklagen hat das Gericht grundsätzlich die Zeit bis zur letzten mündlichen Verhandlung zu berücksichtigen (vgl. Meyer-Ladewig, 7.Auflage, § 54 RdNr 34). Zur Zeit der Klageerhebung konnte der Kläger jedoch noch nicht beurteilen, von welchem Zeitpunkt an sein Anspruch, evtl. nach Beweisaufnahme, feststellbar sein oder wann eine wesentliche Änderung im Sachverhalt zu seinen Gunsten eintreten werde, insbesondere in den Grundlagen der medizinischen Beurteilung. Daher darf man ihm auch nicht nachträglich in Kenntnis des Verfahrensergebnisses entgegen halten, er hätte die Klage zunächst unterlassen und erst später einen Neufeststellungsantrag bei der Verwaltung stellen sollen. Vor allem kann man vorliegend nicht unterstellen, der Beklagte hätte sodann eine Änderung der maßgeblichen Verhältnisse von sich aus und ohne nachfolgendes Gerichtsverfahren in derselben Weise anerkannt, wie er es vor dem SG getan hat (BayLSG, Beschluss vom 11.07.2000 a.a.O.). Derartige außerhalb des Gerichtsverfahrens liegende von zahlreichen anderen Umständen abhängende Faktoren dürfen ebensowenig in die Kostenentscheidung einfließen, wie das prozessuale Verhalten des Leistungsträgers in Gestalt eines sofortigen Anerkenntnisses nach Feststellung der den Leistungsanspruch begründenden Tatsachen (so Hessisches Landessozialgericht Breithaupt 2003, 470). An dem vom Beklagten zitierten Beschluss des BayLSG Az: L 20 B 142/98 RJ = juris Nr. KSRE039001527 = HVBG-Info 2000, 234, hält der 20. Senat in seiner jüngeren Rechtsprechung nicht mehr fest (vgl. Beschluss BayLSG vom 11.08.2004 Az: L 20 B 161/04 RJ).
Dieser Beschluss ergeht kostenfrei und ist unanfechtbar (§ 177 SGG).