Bayerisches Landessozialgericht - L 15 VG 35/13 ER - Beschluss vom 30.10.2013
Eine besondere Eilbedürftigkeit hinsichtlich der Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) zur Abwehr schwerwiegender Nachteile besteht nicht, wenn Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bezogen werden bzw. bezogen werden können. Leistungen der Beschädigtenversorgung nach dem OEG sind nämlich keine Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und stellen keine Entgeltersatzleistungen dar.
Gründe:
I.
Der Antragsteller, Kläger und Berufungskläger (im Folgenden: Antragsteller) begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Am 06.06.2006 beantragte der Antragsteller Beschädigtenversorgung nach dem OEG aufgrund einer gegen ihn gerichteten polizeilichen Maßnahme vom 22.09.2001. Mit Bescheid vom 02.10.2006 lehnte der Antragsgegner, Beklagte und Berufungsbeklagte (im Folgenden: Antragsgegner) den Antrag ab, da kein vorsätzlicher, rechtswidriger und tätlicher Angriff im Sinne von § 1 OEG vorliege.
Am 13.04.2011 stellte der Antragsteller den Antrag auf Rücknahme des genannten Bescheids gemäß § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch, die der Antragsgegner mit Bescheid vom 27.06.2011 ablehnte. Mit Bescheid vom 28.06.2011 lehnte der Antragsgegner auch eine Versorgung wegen eines weiteren vom Antragsteller vorgetragenen Sachverhalts (polizeiliche Maßnahme vom 06.06.2008) ab. Das sich anschließende Klageverfahren vor dem Sozialgericht München (Az.: S 30 VG 27/11) blieb für den Antragsteller erfolglos; mit Urteil vom 10.10.2012 wies das Gericht die Klage gegen die oben genannten Bescheide aus dem Jahr 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.10.2011 ab. Hiergegen hat der Antragsteller am 07.02.2013 Berufung zum Bayer. Landessozialgericht (BayLSG) eingelegt (Az.: L 15 VG 2/13). Mit Beschluss vom 14.05.2013 hat das BayLSG dem Antragsteller für das Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt.
Am 26.09.2013 hat der Antragsteller beim BayLSG Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt, um den Antragsgegner zu verpflichten, Leistungen nach dem OEG wegen der gesundheitlichen Schädigungen, die er aufgrund der polizeilichen Maßnahmen erlitten habe, zu erbringen. Der Antragsteller hat vorgetragen, dass sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund gegeben seien. Hinsichtlich Ersterem hat er unter anderem auf den festgestellten Grad der Behinderung von 50 verwiesen. Soweit überhaupt verständlich, hat der Antragsteller das Vorliegen eines Anordnungsgrundes mit dem ihm monatlich zur Verfügung stehenden Gesamtbetrag von nur 330,00 EUR begründet, der im Hinblick auf die bestehenden Gesundheitsfolgeschäden auch nicht ansatzweise Abhilfe schaffen könne. Unter den bestehenden besonderen Umständen seien deutlich höhere Leistungen erforderlich. Der Antragsteller hat hier unter anderem vorgetragen, er müsse nach der Zerstörung seines Familienlebens durch die polizeilichen Maßnahmen nun ein neues Leben beginnen, müsse nun "vom erlittenen Unrecht genesen" und sich "ehrwürdig in der Gesellschaft darstellen". Ohne Leistungen der Beschädigtenversorgung würden ihm unwiederbringliche Nachteile in seinen fundamentalen Menschen-, Grund- und Persönlichkeitsrechten entstehen.
Als Anlagen seines Antrags hat der Antragsteller eine Mitteilung der Deutschen Rentenversicherung Bayern Süd über die Anpassung seiner Rente wegen voller Erwerbsminderung und einen Bescheid der Landeshauptstadt A-Stadt über die Bewilligung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung - vorgelegt. Daraus ist ersichtlich, dass der Antragsteller in der Zeit ab 01.08.2013 Sozialleistungen in Höhe von 1.473,80 EUR monatlich bezieht.
Mit Schriftsatz vom 14.10.2013 hat der Antragsgegner beantragt, den Antrag auf Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz abzulehnen. Es bestehe weder ein Anordnungsgrund noch ein Anordnungsanspruch. Der Anordnungsanspruch sei nicht gegeben, da die Berufung in der Hauptsache keine Erfolgsaussichten habe. Ein Anordnungsgrund sei nicht gegeben, da eine vorläufige Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nicht nötig erscheine. Zum einen habe der Antragsteller durch das Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache keinen unumkehrbaren Rechtsverlust an dem geltend gemachten Rentenanspruch zu befürchten; sollten die Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente letztendlich nachgewiesen werden, bestehe der Anspruch auf Rente rückwirkend ab Antragstellung. Zum anderen sei eine finanzielle Notlage im Hinblick auf die Erwerbsunfähigkeitsrente sowie die Grundsicherungsleistungen nicht ersichtlich.
Im Übrigen wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakten des gegenständlichen Antrags- und des Berufungsverfahrens verwiesen.
II.
Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist zulässig, jedoch nicht begründet. Er ist daher abzulehnen.
Vorliegend handelt es sich um einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da der Antragsteller eine Erweiterung seiner Rechtsposition anstrebt. Nach der genannten Vorschrift kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Eine Regelungsanordnung setzt sowohl einen Anordnungsgrund (Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung) als auch einen Anordnungsanspruch (materielles Recht, für das einstweiliger Rechtsschutz geltend gemacht wird) voraus. Sowohl der Anordnungsgrund als auch der Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 2 und 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung; vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Ders./Leitherer, SGG, 10. Aufl., § 86b, Rnr. 41).
Vorliegend hat der Antragsteller keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, so dass es letztlich nicht darauf ankommt, ob ein Anordnungsanspruch gegeben ist (vgl. bereits die Entscheidung des Senats vom 13.01.2012 - Az.: L 15 SB 275/11 ER). Denn auch "ein sonnenklar gegebener Anordnungsanspruch ersetzt nicht die fehlende Dringlichkeit" (Wündrich, in: SGb, 2009, 267, 268). Vorliegend kann, wie sich bereits aus dem angefochtenen Urteil des SG ergibt, nicht die Rede davon sein, dass ein Anordnungsanspruch offensichtlich gegeben wäre.
Ein Anordnungsgrund ist nur gegeben, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass ihm ein Abwarten bis zur Entscheidung der Hauptsache nicht zumutbar ist. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Eine besondere Eilbedürftigkeit bezüglich der Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG ist nicht erkennbar; es ist nicht ersichtlich, welche schwerwiegenden Nachteile dem Antragsteller drohen, wenn seinem Begehren nicht sofort entsprochen wird. Vor diesem Hintergrund ist es dem Antragsteller zuzumuten, dass die Klärung seiner Ansprüche dem gerichtlichen Hauptsacheverfahren vorbehalten bleibt (im Hinblick auf eine begehrte Versorgung nach dem OEG z.B. LSG Berlin-Brandenburg vom 08.03.2013 - L 13 VE 43/12 B ER). Denn das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist kein Instrument zur Beschleunigung des Hauptsacheverfahrens (vgl. die o.g. Entscheidung des Senats, a.a.O.), es dient nicht dazu, unter Abkürzung des Hauptsacheverfahrens die geltend gemachte materielle Rechtsposition vorab zu realisieren (LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O.).
Wie der Antragsgegner zu Recht darauf hingewiesen hat, ergibt sich ein schwerwiegender Nachteil für den Antragsteller nicht im Hinblick auf die Sicherung seines Lebensunterhalts. Eine finanzielle Notlage ist nicht ersichtlich, da der Antragsteller, wie oben dargestellt, bereits Sozialleistungen bezieht (vgl. Wündrich, a.a.O., 270, sowie Keller, a.a.O., Rnr. 29f). Im Übrigen würde ein schwerwiegender Nachteil im Sinne von § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG auch dann nicht drohen, wenn der Antragsteller (noch) keine Sozialhilfe- bzw. Rentenleistungen erhalten würde, diese aber jederzeit beantragen könnte (vgl. Zeihe, SGG, 8. Aufl., Stand: 01.11.12, § 86b, Rnr. 31b, m.w.N.; a.A. Keller, a.a.O.). Dies beruht unter anderem auf der Erwägung, dass die Leistungen der Beschädigtenversorgung nach dem OEG (§§ 30 ff. Bundesversorgungsgesetz - BVG) grundsätzlich gerade keine Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und keine Entgeltersatzleistungen darstellen, sondern auch dem Ausgleich immaterieller Einbußen des Beschädigten dienen und - zumindest in zentralen Bereichen - ohne Berücksichtigung des jeweiligen Einkommens gewährt werden (anders z.B. § 30 Abs. 2, § 30 Abs. 3 und § 32 BVG); die Vermeidung von Sozialhilfebedürftigkeit wird nur mit manchen Leistungen bezweckt (vgl. die Übersicht z.B. von Hase, in: von Maydell/Ruland/Becker, Sozialrechtshandbuch, 5. Aufl., § 26, Rnr. 76 f.).
Für den Senat ist auch nicht erkennbar, dass - wie vom Antragsteller behauptet - fundamentale Menschen- bzw. Grundrechte des Antragstellers in Gefahr stünden, wenn die Klärung seiner Ansprüche dem Haupt- bzw. Berufungsverfahren vorbehalten bleibt. Insbesondere dient die Feststellung von Ansprüchen nach dem OEG auch nicht der Rehabilitierung der Opfer rechtswidriger tätlicher Angriffe, wie auch die Beschädigtenversorgung nach dem Strafrechtlichen und dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG und VwRehaG) nur Folge der Rehabilitierungsentscheidung und von dieser getrennt zu bewerten ist ("Folgeansprüche" gem. § 3 StrRehaG, § 2 VwReha). Grundlage für die staatliche Gewaltopferentschädigung ist der Gedanke des staatlichen Versagens der Verbrechensbekämpfung bzw. des solidarischen Einstehens Aller für Geschädigte, die vom Täter zumeist keinen ausreichenden Schadensersatz erhalten; die Entschädigung erfolgt aus sozialstaatlichen Gründen (vgl. hierzu Hase, a.a.O., § 1, Rnr. 5, m.w.N. der Rechtsprechung). Vor allem hat der Antragsteller auch nicht glaubhaft gemacht, wie er allein durch einen ihm Beschädigtenversorgung bewilligenden Bescheid oder allein durch Versorgungsleistungen wieder "ehrwürdig in der Gesellschaft dargestellt" werden könnte.
Ob sich hierfür andere prozessuale Möglichkeiten, gegebenenfalls anderer Gerichtsbarkeiten, anbieten, hat der Senat vorliegend nicht zu beurteilen; er hat sich Empfehlungen insoweit zu enthalten.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.