Bayerisches Landessozialgericht - L 15 SB 123/10 - Urteil vom 20.12.2011
Nach § 90 SGG kann eine Klage grundsätzlich nur schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Gerichts erhoben werden. Dieser vorgeschriebenen Form entspricht eine E-Mail nicht. Geht eine E-Mails am letzten Tag der Klagefrist bei Gericht ein, kann auch keine Fürsorgepflicht des Gerichts verletzt werden, bei deren ordnungsgemäßer Erfüllung der Kläger noch die Möglichkeit gehabt hätte, eine form- und fristgerechte Klageerhebung nachzuholen.
Tatbestand:
Streitig zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Grads der Behinderung (GdB) nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch.
Der Kläger beantragte am 08.03.2007 die Feststellung des GdB.
Mit Bescheid vom 19.06.2007 wurde der GdB mit 50 festgestellt; die gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen wurden nicht anerkannt.
Der vom Kläger erhobene Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 20.02.2008 als unbegründet zurückgewiesen. Wie der sachleitenden Verfügung auf dem Entwurf des Widerspruchsbescheides zu entnehmen ist, ist dieser am 21.02.2008 versandt worden. Zudem ist auf dem Entwurf der Eingangsstempel des ZBFS Niederbayern vom 22.02.2008 angebracht, wohin die Akten nach Versendung des Widerspruchsbescheides verschickt worden sind.
Am 25.03.2008 ist beim Sozialgericht Landshut (SG) ein E-Mail des Klägers eingegangen. Darin hat er Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 20.02.2008 erhoben. Danach hat sich der Kläger erst wieder mit Schreiben vom 10.11.2008 an das SG gewandt.
Mit Urteil vom 27.04.2010 ist die Klage nach Einholung eines Gutachtens abgewiesen worden. Die Klage sei zwar zulässig, aber unbegründet. Der GdB betrage 50.
Gegen das ihm am 02.07.2010 zugestellte Urteil hat der Kläger am 28.07.2010 per Telefax Berufung eingelegt. Dem auf den 18.07.2010 datierten Schreiben ist zu entnehmen, dass der Kläger einen GdB von 100 und das Merkzeichen aG beansprucht.
Im Auftrag des Gerichts hat Frau Dr. B. am 14.05.2011 ein Gutachten erstellt. Sie ist darin zu dem Ergebnis gekommen, dass der GdB 70 betrage.
Der Beklagte hat dem Kläger nach Vorlage dieses Gutachtens mit Schreiben vom 21.06.2011 ein Vergleichsangebot unterbreitet. Mit gerichtlichem Schreiben vom 30.06.2011 ist dem Kläger empfohlen worden, dieses Vergleichsangebot anzunehmen. Im Falle eines Urteils könne er nicht mehr erreichen, da die Klage nicht in der erforderlichen Form erhoben worden sei. Eine Wiedereinsetzung komme nicht in Betracht, da der Kläger sein E-Mail erst am letzten Tag der Klagefrist an das Gericht geschickt habe.
Der Kläger hat sich im Schreiben vom 15.10.2011 dahingehend eingelassen, dass er auch schon "in vergangenen Verfahren" die Klage per E-Mail eingereicht habe, ohne dass dies vom SG gerügt worden sei. Weiter hat er mit Schreiben vom 12.12.2011 vorgetragen, dass es beim Beklagten in der Regel eine Woche, gerechnet ab Briefdatum, dauere, bis das Schreiben beim Empfänger eingehe. Der Beklagte hätte den Widerspruchsbescheid per Einschreiben versenden müssen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Landshut vom 27.04.2010 und des Bescheides des Beklagten vom 19.06.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.02.2008 den Beklagten zu verpflichten, einen GdB von 100 und die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Dem Senat haben die Prozessakten beider Rechtszüge und die Akten des Beklagten vorgelegen. Zur Ergänzung des Sachverhalts, insbesondere hinsichtlich des Vortrags der Prozessbeteiligten, wird hierauf Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat hat in Abwesenheit des Klägers verhandeln und entscheiden können, da dieser über den Termin zur mündlichen Verhandlung informiert und dabei auch auf die Folgen des Ausbleibens hingewiesen worden ist (§ 110 Abs. 1 Satz 2, § 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG).
Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.
Das Urteil des SG ist im Ergebnis nicht zu bestanden. Die Klageabweisung ist zutreffend erfolgt, auch wenn die Klage nicht nur unbegründet, sondern bereits unzulässig gewesen ist.
Der Kläger hat nicht formgerecht innerhalb der Klagefrist Klage erhoben. Mit dem E-Mail vom 25.03.2008, das den Formvorschriften für eine Klageerhebung nicht gerecht wird, war eine Wahrung der Klagefrist nicht möglich. Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sind nicht gegeben.
1. Klage nicht form- und fristgerecht erhoben
Gemäß § 87 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 SGG muss die Klage binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids erhoben werden. Bei falscher oder unterbliebener Rechtsbehelfsbelehrung kann gemäß § 66 Abs. 2 Satz 1 SGG Klage innerhalb eines Jahres ab Bekanntgabe erhoben werden.
Im vorliegenden Fall gilt die Monatsfrist des § 87 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 SGG, da der Widerspruchsbescheid mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung versehen war - und zwar mit einem deutlichen Hinweis auf die gemäß § 90 SGG vorgeschriebene Form: "und zwar nur schriftlich oder zur Niederschrift".
Der Widerspruchsbescheid ist ausweislich der sachleitenden Verfügung auf dem Entwurf des streitgegenständlichen Widerspruchsbescheides am 21.02.2008 zur Post gegeben worden. An dieser Aufgabe zur Post hat der Senat keine Zweifel, zumal bereits am 22.02.2008 die parallel zum Widerspruchsbescheid versandten Verwaltungsakten bei der Regionalstelle Niederbayern des Beklagten eingegangen sind; dies wird durch den Eingangsstempel der Regionalstelle auf dem Entwurf des Widerspruchsbescheides belegt. Ein derartiger Eingang wäre ausgeschlossen, wenn die Akten nicht am 21.02.2008 versandt worden wären. Am gleichen Tag ist auch der Widerspruchsbescheid zur Post gegeben worden.
Für die Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides ist die Form des Einschreibens, wie dies der Kläger vorträgt, nicht vorgeschrieben. Vielmehr ist es zulässig, die Bekanntgabe gemäß § 37 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) mittels einfachen Briefes - wie hier erfolgt - vorzunehmen.
Nach der Drei-Tages-Fiktion des § 37 Abs. 2 SGB X gilt der Widerspruchsbescheid am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post, also am 24.02.2008, als bekannt gegeben (§ 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 187 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB). Dass dieser Tag ein Sonntag ist, steht der Fiktionswirkung nicht entgegen; die Fiktion gilt unabhängig davon, ob in den drei Tagen auch ein Wochenende oder Feiertag liegt oder ob der fiktive Zugangstag ein Sonn- oder Feiertag ist (vgl. Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 06.05.2010, Az.: B 14 AS 12/09 R). § 26 Abs. 3 Satz 1 SGB X greift bei der Ermittlung des Tags der Bekanntgabe nicht ein, da diese Vorschrift nur den Ablauf einer Frist regelt (vgl. Engelmann, in: von Wulffen, SGB X, 7. Aufl. 2010, SGB X, § 37, Rdnr. 12).
Die einmonatige Frist für die Klageerhebung endet gemäß § 26 Abs 1 SGB X i.V.m. § 188 Abs. 2 BGB mit dem Ablauf desjenigen Tages des folgenden Monats, welcher durch seine Zahl dem Tag entspricht, an dem die Bekanntgabe erfolgt ist oder als erfolgt gilt. Dies wäre der 24.03.2008. Da es sich bei diesem Tag mit dem Ostermontag um einen Feiertag handelt, ist die Klagefrist gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 SGB X erst mit Ablauf des nächstfolgenden Werktages, also am 25.03.2008 zu Ende gegangen. An diesem Tag, d.h. am letzten Tag der Klagefrist, ist das E-Mail des Klägers beim Sozialgericht eingegangen.
Wenn der Kläger im Schreiben vom 12.12.2011 die Meinung vertritt, dass der Beklagte den Widerspruchsbescheid per Einschreiben hätte verschicken müssen, und sinngemäß der Ansicht ist, die Klagefrist sei deshalb nicht angelaufen, irrt er. Eine gesetzliche Regelung, wonach ein Widerspruchsbescheid zwingend per Einschreiben versendet werden müsste, gibt es nicht.
Den konkreten Zugang des Widerspruchs im Rahmen der gesetzlichen Fiktionsregelung hat der Kläger nicht bestritten. Vielmehr hat er nur allgemein ausgeführt, dass die Schreiben des Beklagten "in der Regel eine Woche" vom Briefdatum bis zum Eingang beim Empfänger benötigen würden. Der Kläger hat damit einen verspäteten Zugang im konkreten Fall nicht vorgetragen, da er nicht behauptet, dass diese "Regel" auch im vorliegenden Fall einschlägig sei. Im Übrigen würden auch substantiierte Darlegungen fehlen, um die Fiktion in Frage zu stellen (vgl. Engelmann, a.a.O., § 37 Rdnr. 13).
Das E-Mail des Klägers war nicht geeignet, die Klagefrist einzuhalten. Denn gemäß § 90 SGG kann die Klage grundsätzlich nur schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Gerichts erhoben werden. Dieser vorgeschriebenen Form entspricht ein E-Mail nicht (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Bayer. Landessozialgericht - Bayer. LSG - , Urteil vom 29.03.2011, Az.: L 8 AS 75/11, m.w.N.; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 04.08.2010, Az.: L 2 SO 18/10; BSG, Beschluss vom 15.11.2010, Az.: B 8 SO 71/10 B). Nur unter den Voraussetzungen des § 65 a SGG wäre eine Klageerhebung in elektronischer Form zulässig. Dies würde voraussetzen, dass die Bundesregierung oder die Landesregierung des Freistaats Bayern eine entsprechende Verordnung gemäß § 65 a SGG erlassen hätte. Für den Zuständigkeitsbereich der Sozialgerichtsbarkeit im Freistaat Bayern ist dies aber nicht der Fall.
Das erste Schreiben des Klägers an das Sozialgericht in einer der Formvorschrift des § 90 SGG gerecht werdenden Form datiert vom 10.11.2008 und ist damit erst lange nach Ablauf der Klagefrist eingegangen.
2. Keine Wiedereinsetzung
Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 Abs. 1 SGG liegen nicht vor; der Kläger hat die Fristversäumung verschuldet.
Wiedereinsetzung ist zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Der Kläger hätte aufgrund der zutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung im streitgegenständlichen Widerspruchsbescheid wissen müssen, in welcher Frist und in welcher Form er die Klage erheben muss. Mangelnde Rechtskenntnis oder ein Rechtsirrtum des Klägers dahingehend, dass er der Meinung gewesen sei, eine Klage könne auch per E-Mail erhoben werden, begründet kein fehlendes Verschulden (vgl. BSG, Beschluss vom 10.02.1993, Az.: 1 BK 37/92). Irgendwelche anderen Gründe, warum er an einer form- und fristgerechten Klageerhebung gehindert gewesen sein sollte, sind weder vorgetragen worden noch ersichtlich.
Es ist auch keine Fürsorgepflicht des Gerichts verletzt worden, bei deren ordnungsgemäßer Erfüllung der Kläger noch die Möglichkeit gehabt hätte, eine form- und fristgerechte Klageerhebung nachzuholen.
Grundsätzlich besteht - insbesondere gegenüber einer unvertretenen Partei - eine Fürsorgepflicht des Gerichts, die sich aus dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf einen wirkungsvollen Rechtsschutz und dem Gebot des fairen Verfahrens ergibt (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz - GG) (vgl. Bundesverfassungsgericht - BVerfG -, Beschluss vom 20.06.1995, Az.: 1 BvR 166/93). Ausfluss der Fürsorgepflicht ist eine gerichtliche Hinweispflicht dahingehend, bei eindeutig erkennbaren Mängeln bei der Klageerhebung den Betroffenen auf seinen Fehler aufmerksam zu machen und ihm Gelegenheit zu geben, seinen Fehler zu korrigieren (vgl. BSG, Urteil vom 07.10.2004, Az.: B 3 KR 14/04 R; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 04.08.2010, Az.: L 2 SO 18/10). Ein Prozessbeteiligter kann erwarten, dass offenkundige Versehen in angemessener Zeit bemerkt und innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs die notwendigen Maßnahmen getroffen werden, um eine drohende Fristversäumung zu vermeiden. Dabei darf der Begriff "innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs" nicht mit "unmittelbar" oder "sofort" verwechselt werden (vgl. BSG Großer Senat, Beschluss vom 10.12.1974, Az.: GS 2/73).
Vorliegend war der zeitliche Ablauf so, dass das E-Mail des Klägers am letzten Tag der Klagefrist beim Sozialgericht einging. Damit war es dem Gericht nicht mehr möglich, im Rahmen des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs dem Kläger noch rechtzeitig, d.h. noch vor Ablauf der Klagefrist, einen Hinweis zum Formmangel seines E-Mail und der nicht wirksamen Klageerhebung zu geben, sodass dieser noch innerhalb der Klagefrist formgerecht Klage hätte erheben können.
Der Kläger kann sich schließlich nicht auf ein besonderes Vertrauen darauf stützen, dass eine Klageerhebung per E-Mail zulässig wäre.
Der Kläger hat mit Schreiben vom 15.10.2011 vorgetragen, dass er auch schon "in vergangenen Verfahren" die Klagen per E-Mail eingereicht habe, ohne dass dies vom SG Landshut gerügt worden sei. Folgt man dem BSG im Beschluss vom 06.10.2011, Az.: B 14 AS 63/11 B, wäre bei Vorliegen eines vom Gericht geschaffenen Vertrauenstatbestandes selbst bei ultimativer Fristausnutzung der Formfehler unschädlich und dem Kläger Wiedereinsetzung zu gewähren.
Davon kann aber vorliegend nicht ausgegangen werden. Das BSG hat in seinem Beschluss vom 06.10.2011 ausdrücklich das Erfordernis einer "Vielzahl" von Verfahren, in denen der Formfehler nicht gerügt worden ist, als Voraussetzung für die Schaffung eines schützenswerten Vertrauens zu Grunde gelegt. Davon kann hier nicht ausgegangen werden. Vielmehr hat der Kläger, wie eine Nachfrage beim SG ergeben hat, im Zeitraum vor der hier zugrunde liegenden Klage nur in einem einzigen Fall (Verfahren mit dem Az. S 4 KR 288/07) die Klage per E-Mail erhoben, ohne dass eine Beanstandung durch das Gericht erfolgt wäre. Mit einem einzigen Verfahren lässt sich aber ein Vertrauenstatbestand zum Zeitpunkt der Versendung des E-Mails vom 25.03.2008 nicht begründen.
Die Berufung kann daher keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).