Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 13 SB 92/14 - Urteil vom 16.09.2014
Auch in der gemäß § 136 Abs. 1 Nr. 5 SGG vom Gesetzgeber für ein Urteil ausdrücklich angeordneten Kürze ("gedrängte Darstellung") ist zumindest die Nennung einer Rechtsgrundlage für eine gerichtliche Entscheidung unverzichtbar. Dies gilt jedenfalls dann, wenn wie hier nicht gemäß § 136 Abs. 3 SGG zur Begründung Bezug auf die angefochtenen Bescheide genommen wird (was bei entsprechender Qualität solcher behördlichen Bescheide eine weitere gerichtliche Darstellung der Gründe entbehrlich macht).
Tatbestand:
Die Klägerin, bei der aufgrund einer seit Geburt bestehenden Taubheit mit darauf beruhender Sprachstörung und eines Herzklappenfehlers ein Grad der Behinderung von 100 anerkannt ist, begehrt die zusätzliche Feststellung der Nachteilsausgleiche "G" und "B".
Ihren entsprechenden Antrag vom 19.09.2011 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 17.11.2011 ab. Den dagegen erhobenen Widerspruch wies die Bezirksregierung Münster durch Widerspruchsbescheid vom 09.02.2012 zurück.
Dagegen hat die Klägerin Klage eingereicht. Das angerufene Sozialgericht Düsseldorf hat die Klägerin durch den Orthopäden Dr. L begutachten lassen. Dieser hat folgende zusätzliche Diagnose gestellt:
Zustand nach operativer Behandlung einer Ruptur des medialen Retinaculums der rechten Patella.
Die Voraussetzungen für "G" und "B", so Dr. L, lägen nicht vor. Hierauf gestützt hat das Sozialgericht die Klage mit Gerichtsbescheid vom 16.01.2014 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt:
"Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten ausgeführt, dass bei der Klägerin keine Behinderung der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule besteht, die einen Grad der Behinderung von 50 oder mehr bedingt. Es besteht auch keine Behinderung der unteren Gliedmaßen, die sich auf die Gehfähigkeit besonders nachteilig auswirken und die einen Grad von 40 bedingen. Schließlich bestehen bei der Klägerin auch keine inneren, die die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr soweit herabsetzen, dass sie nicht mehr in der Lage ist, ohne erhebliche Schwierigkeiten oder ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken von 2 km Länge zu Fuß zurück zu legen. Damit sind die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" nicht gegeben.
Auch sind die Voraussetzungen für das Merkzeichen "B" nicht gegeben. Nach dem Gutachten ist die Klägerin nicht infolge ihrer Behinderung zur Vermeidung von Gefahren für sich oder andere bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen. Es sind auch keine Hilfen zum Ausgleich von Orientierungsstörungen erforderlich."
Hiergegen richtet sich die rechtzeitige Berufung der Klägerin, die zur Begründung auf die bei ihr bestehende Taubheit, den zweifachen Herzklappenfehler sowie einen operierten Kniescheibenschaden rechts verweist, weswegen eine Beeinträchtigung auch beim Zurücklegen von Wegen bestehe.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 16.01.2014 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung durch das Sozialgericht Düsseldorf zurück zu verweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt den angefochtenen Gerichtsbescheid.
Wegen der Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die beigezogenen Verwaltungsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist im Sinne einer Zurückverweisung begründet. Dies folgt aus § 159 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Denn die angefochtene Entscheidung beruht auf wesentlichen Verfahrensfehlern (hierzu unter I.). Die Aufhebung und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht ist auch unter Würdigung der Schutzinteressen der Beteiligten sachgerecht und angemessen, denn das erkennende Gericht konnte selbst ohne eine aufwändige weitere Beweisaufnahme nicht in der Sache entscheiden (hierzu unter II.)
I. Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift oder aber ein Mangel der Entscheidung selbst (Urteil des Landessozialgerichts - LSG - NRW vom 20.02.2002 - L 10 SW 141/01 - mit weiteren Nachweisen - m.w.N. -).
Im Fall der Klägerin liegen mehrere solcher wesentlichen Entscheidungsmängel vor. Vor Allem hat das Sozialgericht durch die Beweisaufnahme ohne Hinzuziehung eines Gebärdendolmetschers gegen die gemäß Artikel 1 Grundgesetz (GG) zu wahrende Menschenwürde der Klägerin sowie gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs in einem rechtsstaatlichen und fairen Verfahren gemäß Artikel 19, 20 GG und Artikel 6 Abs. 3 e) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in Verbindung mit Artikel 4 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verstoßen Gleichzeitig hat das Sozialgericht dabei den entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt und damit seiner Amtsermittlungspflicht nach den zwingenden gesetzlichen Vorgaben der §§ 103, 106 SGG nicht genügt (hierzu unter 1.) Ferner fehlt es an einer hinreichenden Begründung des angefochtenen Gerichtsbescheides (hierzu unter 2.).
Materiell-rechtliche Grundlage der Entscheidung ist § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Danach war bzw. ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide festzustellen, ob in den gesundheitlichen Verhältnissen der Klägerin eine wesentliche Änderung eingetreten ist, die von ihr beantragte zusätzliche Zuerkennung der Merkzeichen G und B gemäß § 146 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) und § 9 Einkommensteuergesetz (EStGB) rechtfertigt. Das wiederum hängt - zusammengefasst - im Wesentlichen davon ab, ob die Klägerin aufgrund ihrer Behinderungen ohne Gefahren für sich oder andere übliche Fuß-Wegstrecken im Ortsverkehr zurücklegen kann oder bzw. hierzu und/oder zur Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel eine Begleitung benötigt.
Diese rechtlichen Voraussetzungen hat das Sozialgericht nicht bzw. nicht verfahrensfehlerfrei aufgeklärt.
1. Die Verfahrensführung und Sachverhaltsaufklärung des Sozialgerichts ohne Hinzuziehung eines Gebärdendolmetschers ist angesichts der bei der Klägerin bestehenden Taubheit nicht vertretbar, denn ihr ist durch das Gericht von Amts wegen gemäß Artikel 19,20 GG und Artikel 6 EMRK - genauso wie einem hörenden Menschen - im Prozess und in der Beweisaufnahme eine möglichst uneingeschränkte und barrierefreie Kommunikation mit den übrigen Beteiligten, dem Gericht und den Sachverständigen zu gewährleisten. Das stattdessen ausweislich der Ausführungen des Sachverständigen lediglich die Mutter der Klägerin als Gebärdendolmetscherin fungiert hat, ist rechtlich kein zumutbarer und auch kein tauglicher Ersatz. Denn so war die Klägerin gezwungen, auch gegenüber ihrer Mutter höchstpersönliche medizinische Angaben zu ihrem Gesundheitszustand zu offenbaren bezüglich derer sie aber gerade auch vor ihren Angehörigen einen schutzwürdiges Geheimhaltungsrecht besitzt. Dieses Recht der Geheimhaltung höchstpersönlicher Umstände gegenüber Dritten - auch und gerade der Familie - ist als Teil der Menschwürde gemäß Artikel 1 GG anerkannt (näher dazu Bundesverfassungsgericht Urteil vom 15.12.1983 - 1 BvR 209/83 u. a. - ). Dass die Klägerin hier auf diese Weise bei der Begutachtungssituation in eine solche Zwangslage gebracht wurde, stellt mithin eine Verletzung ihrer Menschenwürde der Klägerin durch das Sozialgericht dar.
Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, dass die Mutter der Klägerin überhaupt die für eine medizinisch korrekte und gerichtlich verwertbare Beweisaufnahme und Übersetzung erforderliche fachliche Qualifikation besitzt. Eine solche ist ausschließlich dann gewährleistet, wenn der Sachverständige selbst oder jemand aus seinem Mitarbeiterstab fließend die Gebärdensprache beherrscht oder aber ein allgemein vereidigter Gebärdendolmetscher hinzugezogen wird. Das erkennende Gericht hat bereits mit rechtskräftigem Urteil vom 22.02.2011 - L 13 SB 238/10 - im Fall einer Italienisch-sprachigen Klägerin entschieden und dabei hervorgehoben, dass Begutachtungen ohne Sicherstellung einer verlässlichen sprachlichen Kommunikation als Grundlage einer sozialgerichtlichen Entscheidung nicht verwertbar sind (vergleiche auch Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer SGG, 11. Auflage § 118 Randnummer 11m m.w.N.).
Der Sachverhalt ist im Übrigen auch medizinisch nicht hinreichend aufgeklärt, denn hinsichtlich der von der Klägerin von Anfang an vorgetragenen Erkrankung ihres Herzens hat das Sozialgericht gar keinen Beweis erhoben, obgleich es naheliegt, dass auch eine solche Erkrankung zu Gefahren im Straßenverkehr führen kann. Der als Sachverständige befragte Dr. L hat hierzu als Orthopäde auch keine Angaben gemacht.
Das gleiche gilt für etwaige taubheitsbedingte Einschränkungen der Bewegung der Klägerin im Straßenverkehr. Hierzu hätte es näherer Aufklärung auf fachärztlicher Grundlage bedurft, ob die Klägerin aufgrund ihrer Sehfähigkeiten hinreichend sicher in der Fortbewegung im Straßenverkehr ist, um dort ohne akustische Signale mögliche Gefahren wahrnehmen zu können.
2. Schließlich fehlt dem angefochtenen Urteil auch eine hinreichende Begründung gemäß § 136 SGG, denn das Sozialgericht sagt an keiner Stelle, auf welche Rechtsnormen es sich für seine Entscheidung stützt. Auch in der gemäß § 136 Abs. 1 Nr. 5 SGG vom Gesetzgeber für ein Urteil ausdrücklich angeordneten Kürze ("gedrängte Darstellung") ist zumindest die Nennung einer Rechtsgrundlage für eine gerichtliche Entscheidung unverzichtbar. Dies gilt jedenfalls dann, wenn wie hier nicht gemäß § 136 Abs. 3 SGG zur Begründung Bezug auf die angefochtenen Bescheide genommen wird (was bei entsprechender Qualität solcher behördlichen Bescheide eine weitere gerichtliche Darstellung der Gründe entbehrlich macht). Darüber hinaus fehlt auch die gemäß § 136 Abs. 1 Nr. 6 SGG zwingend erforderliche gerichtliche Beweiswürdigung, denn das Sozialgericht hat im hier angefochtenen Gerichtsbescheid lediglich mitgeteilt, was der Sachverständige ausgeführt habe, ohne aber eigene Ausführungen dazu zu machen, ob und gegebenenfalls warum es diesen Ausführungen des Sachverständigen folgt.
II. Die Zurückverweisung an die erste Instanz ist auch sach- und interessengerecht - dies schon deswegen, um beiden Beteiligten die im Gesetz vorgesehenen zwei Tatsacheninstanzen in vollem Umfang zu erhalten und weil sonst in der Berufungsinstanz eine aufwändige medizinische Beweiserhebung erforderlich wäre. Es ist auch weder vorgetragen noch ersichtlich, dass durch diese Vorgehensweise einem der Beteiligten unzumutbare Nachteile drohen würden.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Die abschließende Kostenentscheidung gemäß § 193 SGG bleibt dem Endurteil des Sozialgerichts vorbehalten.