Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 13 SB 69/14 - Urteil vom 18.12.2014
Die Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit mit einem Intelligenzrückstand entsprechend einem Intelligenz-Alter von etwa 10 bis 12 Jahren bei Erwachsenen ist mit einem GdB von 30-40 zu bewerten, "wenn ein Ausbildungsberuf unter Nutzung der Sonderregelungen für behinderte Menschen erreicht werden kann". Damit sind anerkannte Ausbildungsberufe gemeint, in denen behinderte Menschen nach dem Berufsbildungsgesetz bzw. der Handwerksordnung unter Berücksichtigung ihrer besonderen Verhältnisse, etwa durch die zeitliche und sachliche Gliederung der Ausbildung, die Dauer von Prüfungszeiten, die Zulassung von Hilfsmitteln und die Inanspruchnahme von Hilfeleistungen Dritter wie Gebärdensprachdolmetscher, ausgebildet werden sollen, nicht aber um eine Berufsausbildung für "behinderte Menschen, für die wegen Art und Schwere ihrer Behinderung eine Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf nicht in Betracht kommt".
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB).
Der Beklagte hatte bei dem 1987 geborenen Kläger, der an einer geistigen Retardierung leidet, 1994 für die Behinderung "Hirnleistungsminderung mit Störung der Sprachentwicklung" einen GdB von 50 festgestellt. Mit Bescheid vom 5. Februar 1997 hatte er - ohne Änderung des Gesamt-GdB - als weitere Behinderung "chronisches Ekzem" aufgenommen.
1999 setzte der Beklagte bei dem Kläger den Gesamt-GdB auf 30 herab, nahm diese Entscheidung jedoch auf versorgungsärztliche Empfehlung wieder zurück, in welcher darauf hingewiesen wurde, dass der Kläger sich noch in der Berufsausbildung befunden habe.
Nachdem der Kläger im August 2010 die Ausbildung zum Holzbearbeiter abgeschlossen hatte, setzte der Beklagte mit Bescheid vom 4. Januar 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21. Oktober 2011 bei ihm den Gesamt-GdB von 50 auf 30 herab.
Im hiergegen gerichteten Klageverfahren hat das Sozialgericht Cottbus neben Befundberichten das Gutachten des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. K vom 12. Juli 2013 eingeholt. Der Sachverständige hat die Auffassung vertreten, dass bei dem Kläger 2011 der Gesamt-GdB 30 betragen habe, davor 50. Zur Begründung hat der Gutachter insbesondere darauf verwiesen, dass der Kläger einen Ausbildungsberuf unter Nutzung der Sonderregelung für behinderte Menschen erreicht habe. Dem Gutachten folgend hat das Sozialgericht die Klage mit Urteil vom 23. Januar 2014 abgewiesen. Mit der Berufung wendet der Kläger sich gegen diese Entscheidung.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 23. Januar 2014 und den Bescheid des Beklagten vom 4. Januar 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Oktober 2011 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten, den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet.
Da der Kläger sich gegen die Herabsetzung des bei ihm ursprünglich festgestellten Gesamt-GdB von 50 auf einen Gesamt-GdB von 30 wendet, handelt es sich um eine Anfechtungsklage, bei welcher allein auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, also hier auf die bei ihm im Oktober 2011 bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen, abzustellen ist. Spätere Änderungen des Gesundheitszustandes können im vorliegenden Verfahren nicht berücksichtigt werden.
Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen, da der angegriffene Herabsetzungsbescheid vom 4. Januar 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Oktober 2011 rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.
Rechtlicher Maßstab für die Aufhebung des Bewilligungsbescheides ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X), wonach ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei dessen Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben ist. Hierbei sind die zum Zeitpunkt der Aufhebung bestehenden tatsächlichen Verhältnisse mit jenen, die zum Zeitpunkt der letzten Leistungsbewilligung vorhanden gewesen sind, zu vergleichen.
Die von dem Beklagten aufgehobene Feststellung eines Gesamt-GdB von 50 ist als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung zu qualifizieren. Die im Zeitpunkt des ursprünglichen Bescheides vom 5. Februar 1997 bestehenden Verhältnisse haben sich jedoch nicht wesentlich geändert. Denn bei dem Kläger war im maßgeblichen Zeitpunkt ein Gesamt-GdB von 50 festzustellen.
Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Heranzuziehen sind hierbei die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze".
Maßgeblich ist hier Teil B Nr. 3.4.2 der Anlage zu § 2 VersMedV über die "Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit mit einem Intelligenzrückstand entsprechend einem Intelligenz-Alter (I.A.) von etwa 10 bis 12 Jahren bei Erwachsenen (Intelligenzquotient [IQ] von etwa 70 bis 60)". Zwar erreichte der Kläger bei dem von dem Gutachter Dr. K durchgeführten Intelligenztest einen IQ von 76. Gleichwohl ist die genannte Vorschrift nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen im Hinblick auf die bestehenden Defizite bei der Lebensgestaltung, der Berufsausübung und dem Bildungsweg des Klägers, insbesondere dessen deutliche Kritikstörung, heranzuziehen. Hierüber besteht zwischen den Beteiligten kein Streit.
Entgegen der Ansicht des Beklagten ist die bei dem Kläger bestehende Behinderung im Hinblick auf dessen Abschluss der Ausbildung als Holzbearbeiter nicht nach Teil B Nr. 3.4.2 Alt. 3 der Anlage zu § 2 VersMedV zu bewerten, wonach ein GdB-Rahmen von 30 bis 40 vorgesehen ist, "wenn ein Ausbildungsberuf unter Nutzung der Sonderregelungen für behinderte Menschen erreicht werden kann". Denn hiermit sind anerkannte Ausbildungsberufe gemeint, in denen behinderte Menschen nach § 64 Berufsbildungsgesetz (BBiG) bzw. § 42 k Handwerksordnung (HwO) unter Berücksichtigung ihrer besonderen Verhältnisse, etwa durch die zeitliche und sachliche Gliederung der Ausbildung, die Dauer von Prüfungszeiten, die Zulassung von Hilfsmitteln und die Inanspruchnahme von Hilfeleistungen Dritter wie Gebärdensprachdolmetscher (§ 65 Abs. 1 BBiG bzw. § 42 l HwO), ausgebildet werden sollen. Demgegenüber handelt es sich, wie sich aus den von der Bundesagentur für Arbeit herausgegebenen Informationen im "Berufenet" ergibt, bei der Ausbildung zum Holzbearbeiter um eine Berufsausbildung für "behinderte Menschen, für die wegen Art und Schwere ihrer Behinderung eine Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf nicht in Betracht kommt" (vgl. § 66 Abs. 1 Satz 1 BBiG bzw. § 42 m Abs. 1 Satz 1 HwO). Das Erfordernis, den GdB des Klägers weiterhin mit 50 zu bewerten, wird auch dadurch deutlich, dass er nach Abschluss seiner Ausbildung zum Holzbearbeiter in diesem Beruf keine Beschäftigung gefunden hat, sondern in einem Gartenbaubetrieb tätig ist, in dem er Mäharbeiten durchführt. Dies ist ihm nur mit Unterstützung des Integrationsfachdienstes (der nach § 109 SGB IX bei der Durchführung der Maßnahmen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben beteiligt wird) möglich. Zwar ist der Kläger in der Lage, eine eigene Wohnung zu bewohnen. Jedoch weist die Notwendigkeit, dem Kläger weiterhin regelmäßig warme Mahlzeiten zuzubereiten, die Wohnung zu reinigen, für ihn Arztbesuche und Behördengänge zu organisieren und dessen Ausgaben zu kontrollieren, auf eine "Beeinträchtigung der Fähigkeit zu selbständiger Lebensführung" im Sinne des Teil B Nr. 3.4.2 Alt. 3 der Anlage zu § 2 VersMedV hin, weshalb nach der Überzeugung des Senats ein GdB von 50 gerechtfertigt ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.