Tatbestand:

Der 1962 geborene Kläger begehrt die Zuerkennung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) als 60 und die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG.

Mit Bescheid vom 11. April 2002 hatte der Beklagte beim Kläger einen GdB von 60 und die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G festgestellt. Im September und Oktober 2007 beantragte der Kläger die Neufeststellung des GdB und das Merkzeichen aG. Mit Bescheid vom 22. Juli 2008 lehnte der Beklagte den Antrag ab und hielt an dieser Entscheidung auch auf den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 24. Juni 2009 fest. Hierbei ging er von folgenden Funktionsbeeinträchtigungen aus, denen er verwaltungsintern den aus dem jeweiligen Klammerzusatz ersichtlichen Einzel-GdB zuordnete:
a. Funktionseinschränkung des Großzehengrundgelenkes beidseitig, Funktionsstörung durch Fußfehlform beidseitig, Verschmächtigung durch Verkürzung des rechten Beines bei angeborener rechtsbetonter Spastik beider Beine (40),
b. Sehbehinderung (30),
c. Bluthochdruck, Herzmuskelhypertrophie (20) sowie
d. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (10).

Mit der am 28. Juli 2009 erhobenen Klage hat der Kläger vorgebracht, er könne nur noch 20 Meter zu Fuß gehen und zeige dabei ein stark hinkendes Gangbild. Er müsse Gehstützen benutzen. Insgesamt sehe er den Sachverhalt als nicht ausreichend ermittelt an und den GdB als zu niedrig bemessen. Nach Einholung von Befundberichten hat das Sozialgericht die Klage mit Gerichtsbescheid vom 28. März 2011 abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen, damit dieses weitere Sachverhaltsaufklärung betreiben konnte. Das Sozialgericht hat daraufhin erneut Befundberichte eingeholt sowie weiter Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. A vom 1. Oktober 2012 mit ergänzender Stellungnahme vom 13. Dezember 2013 sowie des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. Sch vom 5. Dezember 2014.

In seinem Gutachten vom 1. Oktober 2012 ist der Sachverständige Dr. A zu der Einschätzung gelangt, der Kläger leide an einer Verschmächtigung und Verkürzung des rechten Beines bei angeborener rechtsbetonter Spastik beider Beine, Funktionsstörung durch Fußfehlform beidseits, rechts mehr als links (GdB 40), einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule ohne sensibles oder motorisches Defizit (GdB 20 seit Februar 2009), einer Sehbehinderung links (GdB 30) sowie einem medikamentös behandelten Bluthochdruck (GdB 20). Seines Erachtens sei der Gesamt-GdB mit 60 zutreffend bemessen, wobei die beiden Funktionsbeeinträchtigungen des Bewegungsapparates mit einem GdB von 50 zu bewerten seien, der im Hinblick auf die Sehbehinderung, mit der ein anderes Organsystem betroffen sei, um einen 10er Grad auf 60 anzuheben sei. Hingegen wirke sich der Bluthochdruck nicht erhöhend aus. Der Kläger könne mit und ohne Hilfsmittel eine Wegstrecke von mindestens 75 Metern mit zumutbarer Anstrengung ohne starke Schmerzen zu Fuß zurücklegen. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 13. Dezember 2013 ist der Sachverständige auf weiter vorgelegte Befundberichte eingegangen und hat insoweit an der Einschätzung aus seinem Gutachten festgehalten.

Der Sachverständige Dr. Sch ist in seinem Gutachten vom 5. Dezember 2014 zu der Einschätzung gelangt, beim Kläger lägen ab dem Zeitpunkt seiner Untersuchung am 25. November 2014 folgende Funktionsbeeinträchtigungen vor:
1. Angeborene Spastik der Beine, rechts mehr als links, Zehengelenksverschleiß, muskuläre Schwäche, Achillessehen-Operation mit Verlängerung rechts 1966, Achillessehnenspaltung rechts 1977, Hüftgelenksverschleiß links, Kniegelenksverschleiß links (GdB 60),
2. Sehminderung bei operierter Schielfehlstellung mit funktioneller Einäugigkeit und bestehender Schielfehlstellung des linken Auges nach außen (30),
3. Bluthochdruck mit sekundärer Organschädigung (20),
4. Wirbelsäulenfunktionsstörung bei Verschleiß (20).

Daneben seien folgende Funktionsbeeinträchtigungen feststellbar, die indes einen GdB-Wert von mindestens 10 nicht erreichten: Medikamentös eingestellte Blutzuckererkrankung, Depression, Leistenbruch links 1974 sowie Übergewicht. Eine Abweichung zu den bisherigen ärztlichen Stellungnahmen sei nur marginal gegeben. Im Wesentlichen handele es sich um eine Verschlechterung der gesundheitlichen Situation des Klägers. Auf die Gehfähigkeit des Klägers wirkte sich die Beeinträchtigung des Bewegungsapparates aus. Allerdings könne der Kläger sich bis zu einer Wegstrecke von 100 bis 130 Metern nach Tagesform außerhalb eines Kraftfahrzeuges ohne große Anstrengung bewegen. Bei Benutzung von zwei Unterarmgehstützen könne er ohne Pause mit zumutbarer Anstrengung Wegstrecken bis etwa 50 Meter zurücklegen.

In der mündlichen Verhandlung vom 20. August 2015 hat der Beklagte - der Einschätzung des Sachverständigen Dr. Sch folgend - beim Kläger einen Gesamt-GdB von 70 ab November 2014 anerkannt. Mit Bescheid vom 3. September 2015 führte der Beklagte das Teilanerkenntnis vom 20. August 2015 aus und stellte beim Kläger mit Wirkung ab November 2014 einen GdB von 70 fest.

Mit Urteil vom 20. August 2015 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und eine Kostenerstattung nicht ausgesprochen. Zur Begründung hat es ausgeführt, ein höherer GdB als 60 ab Antragstellung sowie als 70 ab November 2014 sei nicht gerechtfertigt. Auch die Voraussetzungen des Merkzeichens aG seien nicht gegeben. Insoweit hat es sich den Einschätzungen der gerichtlich bestellten Sachverständigen angeschlossen.

Gegen das ihm am 27. August 2015 zugestellte Urteil hat der Kläger am 23. September 2015 Berufung eingelegt. Der Kläger ist der Auffassung, der GdB hätte mit früherer Wirkung auf 70 hochgesetzt werden müssen. Im Übrigen hält er weiterhin die Voraussetzungen des Merkzeichens aG für gegeben. Der in der mündlichen Verhandlung ausgebliebene Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. August 2015 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung seines Bescheides vom 22. Juli 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Juni 2009 in der Gestalt des Ausführungsbescheides vom 3. September 2015 zu verpflichten, bei ihm auch für die Zeit vom 26. September 2007 bis zum 31. Oktober 2014 einen GdB von 70 festzustellen sowie bei ihm das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorganges des Beklagten Bezug genommen. Er hat vorgelegen und ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

 

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte über die Berufung trotz des Ausbleibens des Klägers in der mündlichen Verhandlung entscheiden, weil der Kläger mit der ihm fristgerecht zugestellten Ladung auf die in § 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vorgesehene Möglichkeit einer Entscheidung nach Lage der Akten hingewiesen worden ist.

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf Zuerkennung eines GdB von 70 auch für die Zeit zwischen Antragstellung und Wirkung des Teilanerkenntnisses (a.) noch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG (b.).

a. Hinsichtlich der Höhe des vor November 2014 festzustellenden GdB nimmt der Senat gem. § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung Bezug, denen er folgt, und sieht von einer Darstellung der weiteren Entscheidungsgründe ab. Ohne Erfolg wendet der Kläger ein, es sei ihm nicht ersichtlich, woraus sich die Anhebung des GdB ab November 2014 ergebe. Insoweit hat der Sachverständige Dr. Sch ausgeführt, dass sich bei seiner gutachterlichen Untersuchung des Klägers eine gegenüber den Voruntersuchungen als Verschlechterung zu beurteilende Veränderung des Gehapparates habe feststellen lassen.

b. Anspruchsgrundlage für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen ist § 69 Abs. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist. Die Voraussetzungen der außergewöhnlichen Gehbehinderung ergeben sich nunmehr aus § 146 Abs. 3 SGB IX, der durch Art. 2 Nr. 13 des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234) neu geschaffen wurde und die am 1. Januar 2018 in Kraft tretende Regelung des § 229 Abs. 3 SGB IX n.F. mit Wirkung ab 30. Dezember 2016 vorwegnimmt (Art. 26 Abs. 2 BTHG). Nach § 146 Abs. 3 Satz 1 SGB IX sind schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht. Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt nach der Legaldefinition des § 146 Abs. 3 Satz 2 SGB IX vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können.

In Abkehr von der bisherigen Rechtslage, die nach Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO - Teil D Nr. 3 der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I 2412) war mangels einer gesetzlichen Ermächtigung nichtig, da § 70 Abs. 2 SGB IX nach Art. 2 des Änderungsgesetzes vom 7. Januar 2015 (BGBl. II S. 15) erst am 15. Januar 2015 in Kraft getreten ist - durch die Differenzierung in Regelbeispiele und Gleichstellungsfälle geprägt war, normiert § 146 Abs. 3 SGB IX nunmehr zwei (kumulative) Voraussetzungen: Bei dem Betroffenen muss eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung bestehen, die einem GdB von mindestens 80 entspricht.

Auch wenn beim Kläger eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung im Sinne des § 146 Abs. 3 Satz 2 SGB IX bestehen sollte, erreichten dessen Behinderungen, die sich negativ auf die Mobilität auswirken, keinen GdB von mindestens 80 und kommen dieser Beeinträchtigung auch nicht gleich. Bei ihm wirkt sich auf die Mobilität die Funktionsbeeinträchtigung der unteren Extremitäten aus und darüber hinaus die Wirbelsäulenfunktionsstörung. Diese sind nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. Sch mit Einzel-GdB von 60 bzw. 20 zu bewerten, so dass selbst bei Anerkennung einer verstärkenden Wirkung der notwendige GdB von 80 nicht erreicht wird.

Darüber hinaus haben beide gerichtlich bestellten Sachverständigen überzeugend ausgeführt, dass der Kläger außerhalb eines Kraftfahrzeuges ohne fremde Hilfe und auch ohne große Anstrengung noch Wegstrecken zurückzulegen vermag, die die Zuerkennung des Merkzeichens aG offenkundig ausschließen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich, § 160 Abs. 2 SGG.