Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 11 SB 277/14 NZB - Beschluss vom 05.05.2015
Die von der Behörde vorliegend aufgeworfene Frage, ob ein Rechtsuchender verpflichtet ist, die Portokosten für die Übersendung der Verwaltungsakten in die Kanzlei des ihn in einem Widerspruchsverfahren vertretenden Rechtsanwaltes zu erstatten, erweist sich nicht als grundsätzlich klärungsbedürftig. Denn die Antwort auf diese Frage ergibt sich ohne weiteres aus dem Gesetz. Dieses sieht eine Anspruchsgrundlage für die Erhebung der in Rede stehenden Portokosten nicht vor.
Gründe:
Die zulässige Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 30. Oktober 2014 ist nicht begründet. Gründe für die Zulassung der Berufung im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) liegen nicht vor.
Der Rechtssache kommt keine grundsätzliche Bedeutung gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zu. Denn eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung, wenn von ihrer Entscheidung erwartet werden kann, dass sie zur Erhaltung und Sicherung der Rechtseinheit und zur Fortbildung des Rechts beitragen wird. Das ist nur der Fall, wenn es in einem Rechtsstreit um eine klärungsbedürftige und klärungsfähige (entscheidungserhebliche) konkrete Rechtsfrage geht, deren Entscheidung über den Einzelfall hinaus Bedeutung besitzt. Dabei ist unabhängig von der höchstrichterlichen Klärung eine Rechtsfrage dann nicht klärungsbedürftig, wenn die Beantwortung so gut wie unbestritten ist oder die Antwort von vornherein praktisch außer Zweifel steht (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage 2014, § 160, Rn. 8 und 8a).
Die von dem Beklagten sinngemäß aufgeworfene Frage, ob ein Rechtsuchender verpflichtet ist, die Portokosten für die Übersendung der Verwaltungsakten in die Kanzlei des ihn in einem Widerspruchsverfahren vertretenden Rechtsanwaltes zu erstatten, erweist sich nicht als grundsätzlich klärungsbedürftig. Denn die Antwort auf diese Frage ergibt sich ohne weiteres aus dem Gesetz. Dieses sieht eine Anspruchsgrundlage für die Erhebung der in Rede stehenden Portokosten nicht vor.
Im Grundsatz regelt § 64 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X), dass für das Verfahren bei den Behörden nach diesem Gesetzbuch keine Gebühren und Auslagen erhoben werden. Diese Vorschrift ist auch in dem hier zugrunde liegenden schwerbehindertenrechtlichen Widerspruchsverfahren anzuwenden. Allerdings regelt § 62 SGB X, dass für förmliche Rechtsbehelfe gegen Verwaltungsakte, wenn der Sozialrechtsweg gegeben ist, das SGG gilt, soweit nicht durch Gesetz etwas anderes bestimmt ist; im Übrigen gelten die Vorschriften dieses Gesetzbuches. Das SGG enthält aber ebenfalls keine Grundlage für die Geltendmachung von Portokosten, die durch eine Aktenübersendung im Widerspruchsverfahren angefallen sind. Eine Regelung zur Akteneinsicht im Widerspruchsverfahren im SGG ist lediglich in dessen § 84a enthalten, nach dem für das Vorverfahren § 25 Abs. 4 SGB X nicht gilt. § 84a SGG ermöglicht damit eine über die engeren Voraussetzungen von § 25 Abs. 4 SGB X hinausgehende und weitgehend mit der Rechtslage im Klageverfahren (§ 120 SGG) vergleichbare Versendung der Verwaltungsakten zwecks Einsichtnahme (vgl. Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Auflage 2014, § 84a, Rn. 2). Eine Ermächtigungsgrundlage zur Kostenerhebung ergibt sich daraus aber nicht.
Eine Ermächtigungsgrundlage zur Geltendmachung von Portokosten ist auch nicht in § 25 Abs. 5 Satz 3 SGB X - bis zum 31. Juli 2013 § 25 Abs. 5 Satz 2 SGB X - enthalten. Danach kann die Behörde zwar Ersatz ihrer Aufwendungen in angemessenem Umfang verlangen. Die Vorschrift steht aber im systematischen Zusammenhang mit § 25 Abs. 5 Satz 1 und 2 SGB X und regelt damit die Ersatzpflicht für Aufwendungen, die insbesondere dadurch entstanden sind, dass die Behörde Ablichtungen fertigt (Satz 1) oder Unterlagen aus einer elektronischen Akte ausdruckt (Satz 2). Die Erhebung von Portkosten ist davon nicht umfasst (vgl. Landessozialgericht Sachsen, Urteil vom 23. November 2011 - L 6 SB 34/11 - juris).
Etwas anderes folgt hier auch nicht aus § 120 Abs. 2 Satz 6 SGG. In dieser Vorschrift ist zwar ausdrücklich geregelt, dass im gerichtskostenfreien Verfahren Kosten für die Aktenübersendung nicht erhoben werden, während es an einer solchen Regelung im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren fehlt. Daraus folgt aber nicht die Zulässigkeit einer Aktenversendungspauschale in den beiden letztgenannten Verfahren. Denn bis zur Einführung einer entsprechenden gesetzlichen Regelung im SGG durch das Sechste Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes vom 17. August 2001 (BGBl I S. 2144) (damals noch als § 120 Abs. 2 Satz 3 SGG) war zwar umstritten, ob im sozialgerichtlichen Verfahren eine Aktenversendungspauschale erhoben werden durfte (vgl. Pawlita, NZS 1997, S. 513). Der Gesetzgeber hat die entsprechende Regelung aber ausdrücklich zur "Klarstellung" getroffen, dass der Grundsatz der Kostenfreiheit auch bei Versendung von Akten durch die Sozialgerichte gilt (BT-Drs. 14/5943, S. 26). Mithin ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass schon vor der ausdrücklichen Regelung der Kostenfreiheit für Aktenübersendungen im SGG eine Rechtsgrundlage für eine entsprechende Kostenerhebung nicht bestanden hat.
Raum für die von dem Beklagten erwogene analoge Anwendung des § 25 Abs. 5 Satz 3 SGB X sieht der Senat nicht. Eine planwidrige Regelungslücke ist nicht erkennbar. In § 64 Abs. 1 SGB X ist der Grundsatz der Kostenfreiheit geregelt. Ausnahmen hiervon bedürfen einer ausdrücklichen Regelung (vgl. Mutschler in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 25 SGB X, Rn. 21).
Eine Grundlage für die Geltendmachung von Portokosten ergibt sich hier auch nicht aus der Verwaltungsgebührenordnung des Landes Berlin vom 24. November 2009 (GVBl. S. 707). Diese regelt in ihrer Anlage unter I. allgemeine Verwaltungsgebühren. Unter Nr. 1004 sind unter Buchstabe b) zwar mehrere Gebührentatbestände im Zusammenhang mit Akteneinsicht geregelt. Sie betreffen aber nur Amtshandlungen nach dem Berliner Informationsfreiheitsgesetz und vergleichbarer gesetzlicher Informationsansprüche und sind damit hier nicht einschlägig.
Inwieweit das von dem Beklagten überreichte Rundschreiben des Senators für Inneres über Akteneinsicht durch Rechtsanwälte im Verwaltungsverfahren; hier: Übersendung von Verwaltungsakten in die Kanzleien der Rechtsanwälte vom 5. März 1987 einerseits einschlägig und andererseits noch aktuell ist, muss der Senat nicht entscheiden, weil ein solches Rundschreiben eine bundesgesetzliche Regelung nicht verdrängen kann.
Eine Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Aufwendungsersatz besteht demnach nicht (vgl. auch Roller, Probleme der Akteneinsicht im Sozialverwaltungsverfahren, NZS 2013, S 761, 765; Weber in Beck scher Online-Kommentar Sozialrecht, § 25 SGB X, Rn. 22b). Dies ergibt sich aus dem Gesetz und steht praktisch außer Zweifel.
Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ergibt sich hier auch nicht daraus, dass nach Angaben des Beklagten "die Anzahl der erstinstanzlichen Prozesse [ ] ansteigend" sein soll und die "überwiegende Anzahl der Prozessvertreter in Ausnahme des Grundsatzes von § 25 Abs. 4 S. 1 SGB X eine Übersendung der Akten beantragen, jedoch nicht immer bereit sind, die dadurch entstehenden Portokosten zu erstatten". Zum einen hat der Beklagte die Anfrage aus dem Schreiben des Senats vom 6. Februar 2015 nach der konkreten Anzahl derartiger Verfahren nicht beantwortet. Zweitens betrifft der entsprechende Beklagtenvortrag allenfalls die Frage, ob die Rechtssache Bedeutung über den Einzelfall hinaus hat (vgl. Leitherer, a.a.O., Rn. 7a), nicht aber die zu verneinende Frage, ob die sich hier stellende Rechtsfrage klärungsbedürftig ist. Ungeachtet dessen verkennt der Beklagte auch, dass § 25 Abs. 4 SGB X jedenfalls im Widerspruchsverfahren gemäß § 84a SGG nicht gilt. Dass das Sozialgericht in dem dem Berufungsverfahren vor dem Senat zugrunde liegenden Rechtsstreit die grundsätzliche Bedeutung bejaht und demgemäß in seinem Urteil vom 9. Februar 2015 die Berufung zugelassen hat, verkennt der Senat nicht, doch teilt er die Auffassung des Sozialgerichts insoweit aus oben dargelegten Gründen nicht.
Die Berufung kann hier auch nicht gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG zugelassen werden, weil sich nicht feststellen lässt, dass das mit der Nichtzulassungsbeschwerde angegriffene Urteil von einem Urteil der in der Vorschrift genannten Gerichte abweichen würde. Schließlich ist die Berufung auch nicht nach § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG zuzulassen. Danach ist die Berufung zuzulassen, wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann. Ein Verfahrensmangel ist hier aber nicht erkennbar und wird vom Beklagten nicht dargestellt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG). Nach § 145 Abs. 4 Satz 4 wird das Urteil des Sozialgerichts mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Landessozialgericht rechtskräftig.