BSG - Urteil vom 12.2.2003 - B 9 SB 5/02 R |
1. Grundsätzlich stellt allein der Umstand, dass ein Beteiligter außer Stande ist, zur mündlichen Verhandlung zu
erscheinen, und dies vorher mitteilt, noch keinen zwingenden Grund für eine Terminsverlegung dar.
2. Wird jedoch ein Terminsverlegungsgrund geltend gemacht oder beantragt, den Termin zu verlegen und folgt das Gericht dem nicht, so verstößt es gegen den Rechtsanspruch auf rechtliches Gehör.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) des Klägers sowie darüber, ob bei
ihm eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr vorliegt.
Auf Antrag des Klägers stellte das Versorgungsamt mit Bescheid vom 24. Juni 1997 einen GdB von 50 fest,
verneinte jedoch das Vorliegen einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im
Straßenverkehr (Merkzeichen "G"). Auf dessen Widerspruch stellte der Beklagte den GdB unter der
Bezeichnung "schwere neurotische Störung" mit 80 fest und wies den Widerspruch im Übrigen zurück
(Widerspruchsbescheid vom 10. November 1998). Mit Gerichtsbescheid vom 18. August 2000 wies das
Sozialgericht Koblenz (SG) die Klage ab. Dagegen legte der Kläger beim Landessozialgericht
Rheinland-Pfalz (LSG) Berufung ein. Seinen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe lehnte das LSG
wegen mangelnder Erfolgsaussicht ab. Auf die gerichtliche Anfrage, ob er mit einer Entscheidung ohne
mündliche Verhandlung einverstanden sei, erklärte der Kläger im Februar 2001, dass er auf einer mündlichen
Verhandlung bestehe, weil er in dieser Sache auch zu Wort kommen wolle. Nachdem er die Ladung zu dem
auf den 5. September 2001 anberaumten Termin erhalten hatte, teilte der Kläger dem LSG am 29. August
2001 unter Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 28. August 2001 mit, er sei sehr krank. Am 5.
September 2001 verhandelte das LSG in Abwesenheit des Klägers und wies dessen Berufung durch Urteil
zurück, weil weder ein höherer GdB noch die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des
Merkzeichens "G" gegeben seien.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger vor allem, das LSG habe gegen den Grundsatz der
mündlichen Verhandlung (§ 124 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) verstoßen und damit sein Grundrecht auf
rechtliches Gehör (Art 103 Grundgesetz <GG>) verletzt. Er habe an der mündlichen Verhandlung vor dem LSG
am 5. September 2001 aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen können. Da dem LSG dies sowie sein
zuvor geäußertes Interesse an einer mündlichen Verhandlung bekannt gewesen seien, hätte es den
anberaumten Termin aufheben und auf einen späteren Zeitpunkt verlegen müssen. Auf diesem
Verfahrensfehler beruhe das angefochtene Urteil, denn seine abschließende Auffassung habe nicht darin
einfließen können. Eine erfolgreiche Berufung habe sich vor allem deshalb nicht ausschließen lassen, weil
seine massiven psychischen Störungen - auch unter Zuhilfenahme von medizinischen Sachverständigen - zur
Zuerkennung eines höheren GdB sowie des Merkzeichens "G" hätten führen können.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 5. September 2001 sowie den Gerichtsbescheid des SG Koblenz
vom 18. August 2000 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 24. Juni 1997 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 1998 zu verurteilen, bei ihm einen Grad der
Behinderung von 100 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des
Merkzeichens "G" festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er trägt vor: Nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens könne dem Klageanspruch nicht stattgegeben
werden. Allerdings liege der gerügte Verfahrensfehler vor.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist iS der Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Wie der Kläger
zutreffend gerügt hat, ist das angefochtene Urteil verfahrensfehlerhaft zu Stande gekommen und beruht hierauf
auch.
Das LSG hat gegen den Grundsatz der mündlichen Verhandlung (§ 124 Abs 1 SGG) verstoßen und damit
zugleich das Grundrecht des Klägers auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) verletzt. Allerdings
hat das LSG zunächst ordnungsgemäß Termin zur mündlichen Verhandlung des Rechtsstreits auf den 5.
September 2001 anberaumt und die Beteiligten zu diesem Termin geladen. Es hätte am festgesetzten Tage
jedoch nicht ohne Weiteres in Abwesenheit des Klägers verhandeln und entscheiden dürfen.
Grundsätzlich stellt allein der Umstand, dass ein Beteiligter außer Stande ist, zur mündlichen Verhandlung zu
erscheinen, und dies vorher mitteilt, noch keinen zwingenden Grund für eine Terminsverlegung dar (Beschluss
des 13. Senats des Bundessozialgerichts <BSG> vom 24. September 2002 - B 13 RJ 55/02 B -). Dies gilt
insbesondere dann, wenn, wie hier, auf die Möglichkeit hingewiesen worden ist, dass bei Fernbleiben eines
Beteiligten nach Lage der Akten entschieden werden könne (vgl dazu § 110 Abs 1 Satz 2 SGG). An sich wäre
es danach nicht zu beanstanden, dass im vorliegenden Fall ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 5.
September 2001 eine einseitige mündliche Verhandlung mit dem Prozessbevollmächtigten des Beklagten
stattgefunden hat, auf Grund der das Berufungsurteil ergangen ist. Dem LSG ist jedoch insofern ein
Verfahrensmangel unterlaufen, als es nicht berücksichtigt hat, dass hier den Umständen nach zumindest sehr
viel dafür sprach, dass der unvertretene und psychisch behinderte Kläger einen Terminsverlegungsgrund
geltend machen wollte. Wenn ein solcher Beteiligter es beantragt oder wenigstens seinen entsprechenden
Willen zum Ausdruck bringt, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, kann der Grundsatz des rechtlichen
Gehörs es erforderlich machen, die anberaumte mündliche Verhandlung auf einen anderen Termin zu verlegen
(§ 227 Abs 1 und 2 ZPO, § 202 SGG; vgl den og Beschluss des BSG, weiter den Senatsbeschluss vom 7.
Februar 2001 - B 9 VM 1/00 B - sowie die Urteile des BSG vom 30. Oktober 2001 - B 4 RA 49/01 R - und vom
28. April 1999 - B 6 KA 40/98 R - USK 99 111). Im Zweifel ist bei entsprechenden Anhaltspunkten eine
Rückfrage bei dem betreffenden Beteiligten geboten (vgl dazu BSG, Urteil vom 16. Dezember 1993 - 13 RJ
37/93 -).
So verhält es sich hier. Der Kläger hatte mit Schreiben an das LSG vom 14. Februar 2001 mitgeteilt: "... Ich
möchte in dieser Sache auch zu Wort kommen, also mündliche Verhandlung ...". In dieser Äußerung liegt die
eindeutige Willensbekundung des Klägers, dass er einer mündlichen Verhandlung des Rechtsstreits
entgegensehe, an ihr teilnehmen und sich in diesem Rahmen äußern wolle (zur Auslegung von
Prozesshandlungen vgl BSGE 63, 93, 94 f = SozR 2200 § 205 Nr 65). Bei dieser Sachlage ist das LSG unter
Verletzung des Grundsatzes der Gewährung rechtlichen Gehörs verfahren, indem es ohne weiteren Kontakt
mit dem Kläger auf Grund einseitiger mündlicher Verhandlung entschieden hat. Abgesehen davon, dass der
Berufungssenat ohne nähere Erkundung von Grund und Ausmaß der vom Kläger glaubhaft nachgewiesenen
Erkrankung nicht berechtigt war, die eingereichte Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit als unzureichend
anzusehen (ebenso BSG, Urteil vom 28. April 1999 - B 6 KA 40/98 R - USK 99 111), hätte er dem Kläger
jedenfalls durch einen entsprechenden Hinweis Gelegenheit geben müssen, seine Unfähigkeit, zum Termin zu
erscheinen, näher darzulegen. Entsprechend verhält es sich, wenn das LSG zu der Auffassung gelangen
wollte, der Kläger bestehe im Hinblick auf seine Erkrankung nicht mehr auf einer Teilnahme an der mündlichen
Verhandlung. Derartige Rückfragen hat die Vorinstanz unterlassen, obwohl vom Eingang der Krankmeldung
des Klägers bis zum Termin noch mehrere Tage Zeit war.
Die angefochtene Entscheidung kann auf diesem Verfahrensmangel beruhen. Der Senat hat bereits
entschieden, dass wegen des besonderen Rechtswertes der mündlichen Verhandlung im Allgemeinen davon
auszugehen ist, dass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, die einen Verfahrensbeteiligten daran gehindert
hat, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, die daraufhin ergangene Entscheidung beeinflusst hat (vgl
Urteil vom 21. August 2002 - B 9 VJ 1/02 R -). Der Angabe, welches Vorbringen durch das beanstandete
Verfahren verhindert worden ist, bedarf es deshalb hier nicht, zumal Gründe, die gegen die vermutete
Ursächlichkeit sprechen, nicht ersichtlich sind. Vielmehr ist es nicht ausgeschlossen, dass eine Teilnahme des
Klägers an der mündlichen Verhandlung dem LSG hätte Veranlassung geben können, die Behinderung des
Klägers - mit einem für diesen günstigen Ergebnis - weiter aufzuklären.
Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.